In der Gesellschaft ist ein leidenschaftlicher Streit um die beste Erziehung entbrannt. Zum Auftakt unserer Serie gibt der Erziehungswissenschaftler Herbert Renz-Polster Ratschläge.
Stuttgart - Schon mal mit jemandem über Erziehung gestritten? Schlimmer ist das, als über Parteipolitik zu reden. Ich lege die Hand dafür ins Feuer: Genauso wenig wie jemand die politische Seite wechselt, nur weil man da jetzt alles noch mal durchgesprochen hat, lässt man sich auf einen Erziehungsstil ein, nur weil die Argumente stimmen. Nein, der Bauch muss stimmen, das Herz, das muss sich „richtig“ anfühlen.
Nehmen wir diese Endlos-Diskussion um den Kinofilm „Elternschule“. Glaubt wirklich jemand, da gehen Eltern rein, schauen sich an, wie da „Esstrainings“, „Schlaftrainings“ und „Trennungstrainings“ durchgeführt werden, und sagt sich: Feine Sache, ab jetzt trainieren wir mit Jessica und Maximilian auch, das sind ja ebenfalls so schlechte Esser, Schläfer und Klammeräffchen. Nein: Die einen kommen raus und werden nachts nicht schlafen können, weil die Bilder von den weinenden Kindern und der Übermacht des Klinikpersonals sie nicht loslassen. Die andern werden sagen: Es funktioniert doch, auf groben Klotz ein grober Keil, gut dass da jemand Grenzen und Struktur vermittel. Ein Kind muss schließlich wissen, wer Chef ist.
Früher war es anders
Hätten wir auch zu diesem Film also mal wieder das alte Lied gesummt: Wir sind uns in Sachen Erziehung nicht einig. Wir haben so viele Erziehungsstile, wie wir Lebensstile haben – und sind bei der Erziehung so unsicher wie in Lebensdingen. Kein Wunder, dass wir die Zeiten glorifizieren, als die Eltern noch wussten, wie Erziehung geht. Nur – da landen wir ausgerechnet in den dunkelsten geschichtlichen Epochen. In den diversen Deutschen Reichen etwa war man sich sogar über Babys ziemlich einig. Sie sollten früh sauber sein und nachts gab es eine Stillpause, da durften sie sich dann die Seele aus dem Leib schreien. Die Eltern waren sich zwar sicher, das dies die richtige Vorbereitung auf das Leben ist. Aber wie sah das für die Kinder aus? Vielleicht ist die heutige Unsicherheit ja eine Ressource?
Wieder eine Aussage, bei der es manche Leserin und manchen Leser schütteln wird. Und erwarten die von einem Experten nicht zu Recht, dass er genau darlegt, wie die richtige, moderne, gute Erziehung geht? Nur, auch die Fachleute sind sich nicht einig. Wir müssten sonst ja nicht immer wieder neue Bücher schreiben.
Das Kind soll gerüstet sein
Aber worüber genau streiten wir da eigentlich? Vordergründig haben ja alle Eltern in der Erziehung das gleiche Ziel: Das Kind soll für das Leben in der Gesellschaft gerüstet sein! Es soll in die Lage versetzt werden, das Richtige zu tun! Nur, von da an trennen sich die Wege: Was genau ist das Richtige, das mein Kind einmal tun soll? Und: Wie bringe ich mein Kind dazu, das Richtige dann auch zu tun?
Genau da geht es ans Eingemachte. Die eine Fraktion der Eltern vertraut darauf, dass aus ihren Kindern schon einmal „was wird“ – wenn sich der Nachwuchs nur wohlfühlt und genug Entdeckungsraum hat. Kinder, so nimmt man an, werden dieses Kapital schon nutzen, um neugierig die Welt zu erobern – und dabei stark zu werden. Für diese Eltern ist Nähe zum Kind kein Widerspruch zur Entwicklung seiner Selbstständigkeit, sondern im Gegenteil deren Sprungbrett. Ein Kind, das sich zu Hause beheimatet fühlt, wird umso mehr Lust auf die neue Welt dort draußen bekommen! Also hat man hier auch wenig Probleme damit, den Kindern das Nest behaglich auszukleiden und ihnen auch ihre Freiheit zu geben. Hauptsache, man hat einen guten Draht zueinander.
Die Sorge, Kinder zu verwöhnen
Im anderen Lager kriegt man bei solchen fahrlässigen Annahmen gleich rote Flecken. Bei diesen Eltern steht die Sorge im Mittelpunkt, das kleine Kind könne vielleicht verwöhnt werden, wenn seine Eltern seinem Bedürfnis nach Nähe und engen Kontakt nachgeben. Werden die Kleinen durch die weiche Behandlung nicht vielleicht träge, fordernd und faul – was als Vorbereitung auf die eher harte Welt doch eher nachteilig sein dürfte? Und überhaupt, Erziehen kann doch nicht heißen, dass man als Eltern nachgibt – etwa wenn das Kind Begleitung in den Schlaf verlangt oder sein Gemüse nicht isst. Kommen Kinder nicht eher dadurch voran, dass man ihnen auch einmal gegen ihren Willen etwas abverlangt – sie etwa weinen lässt, statt sie gleich aufzunehmen und zu trösten? Wie sollen sie sonst ihre Kräfte mobilisieren und ihre Abhängigkeit von den Erwachsenen überwinden?
Und so streiten wir mit roten Köpfen um die alten Themen: Wie viel Vertrauen, wie viel Kontrolle? Wie viel Freiheit, wie viel Grenzen? Wie viel Nähe, wie viel Distanz? Wie viel Leitung, wie viel Lassen? Und wer jetzt die Frage stellt, welches der beiden Lager denn „recht“ hat, stellt eine gute, allerdings nicht sehr praktische Frage. Denn ob wir als Eltern eher der einen oder der anderen Seite zuneigen, hat tiefe, in unserer Persönlichkeit und unserer Biografie verankerte Gründe.
Seelische Sicherheit
Aber wie sieht es für die Kinder aus? Für sie zählt letzten Endes nicht die Absicht, nicht die Methode und auch nicht das Menschenbild ihrer Eltern. Für das Kind zählt einzig und allein das: wie viel seelische Sicherheit und Stärke es bei seinem Aufwachsen gewinnen kann. Eine auf gute Beziehungen und Vertrauen setzende Erziehung schafft dazu – das ist meine feste Überzeugung und auch die für mich einzig mögliche Interpretation der Fachliteratur – die besten Voraussetzungen.
Insofern sollten Kinder tatsächlich den Storch bitten, sie bei Eltern auf dieser Seite des ewigen Grabens abzusetzen. Allerdings – das als erste Einschränkung hinterher – sollten sie dann auch ganz doll darauf hoffen, dass sie dort dann ein spannendes Umfeld vorfinden, in dem Kinder sich bewähren und ausprobieren können. Man kann nämlich auf jeder Seite des Grabens seine Kindheit verplempern, wenn es darin nur um die Pläne und Animierprogramme der Erwachsenen geht. Heimat ohne Freiheit funktioniert für Menschenkinder nicht.
Kein Anrecht auf ideale Kinder
Und vielleicht ist das ja der Grund, warum auch die Eltern auf der anderen Seite kein Anrecht auf ideale Kinder haben. Denn ob die positiven Einstellungen und das Vertrauen dann beim Kind ankommen, liegt auch daran, wie vertraut und sicher die Eltern im Leben stehen. Ob sie leuchtende oder matte Augen haben, ob sie mit Freude auf die Welt blicken oder mit Furcht. Vielleicht sind Kinder, deren Eltern sie streng, aber mit leuchtenden Augen erziehen, besser dran als Kinder, die „bedürfnisorientiert“ erzogen werden, aber das von Eltern, denen nicht wohl in ihrer Haut ist. Das heißt nicht, dass Eltern Kindern alles Mögliche zumuten können – nein, Kinder haben kindliche Belastungsgrenzen. Aber Kinder sind großzügig, solange ihre Eltern beflügelt sind und jeden Tag dazulernen.