Sie fahren zusammen in den Urlaub, bauen gemeinsam Häuser, kümmern sich im Alter umeinander – Freunde ersetzten manchmal Familie Foto: Franz Pfluegl/Fotolia

Diskutieren Sie mit - In einer Single-Gesellschaft übernehmen Freunde immer mehr Aufgaben, die früher die (Kern-)Familie erfüllte. Außerdem sei die Freundschaft bislang die letzte Beziehungsform „frei von Kosten-Nutzen-Denken“, sagt Soziologin Julia Hahmann.

Stuttgart - Dieses Jahr sind sie schon zusammen durch den mexikanischen Dschungel gewandert. Sie waren Ski laufen in den Alpen, entspannen am Gardasee, einkaufen in München.

Marion und Astrid sind beste Freundinnen. Wenn sie nicht gerade gemeinsam verreisen, verbringen sie viel Zeit im Alltag miteinander. Sie gehen essen, feuern auf ihren Dauerplätzen im Stadion den heimischen Fußballverein an, liegen an langweiligen Sonntagnachmittagen gemeinsam vor dem Fernseher. Mit Anfang 20 haben sie sich bei der Arbeit kennengelernt. Mittlerweile sind sie Ende 30, beide haben keine Kinder und derzeit auch keine Partner.

Freunde sind die neue Familie. Das ist so ein Satz, der sich gut für Partygespräche eignet. Er gehört in eine Kategorie mit „30 ist das neue 20“ oder „Nachhaltig ist das neue Premium“. Sätze, die eine gesellschaftliche Entwicklung beschreiben, die viele fühlen, aber vielleicht nicht so recht belegen können.

Dreißigjährige leben heut oft wie früher 20-Jährige

Dass zum Beispiel Dreißigjährige heute so leben, feiern und manchmal auch aussehen wie früher 20-Jährige. Oder dass Kunden bereitwillig viel Geld auszugeben, wenn auf dem Produkt ein Fair-gehandelt- oder Biosiegel klebt. Im Fall der Freunde bedeutet der Satz, dass sie heute genauso wichtig sind wie früher Familie.

Natürlich gibt es die statistischen Fakten, die zu diesem Satz passen: Mehr als ein Drittel der Haushalte sind heute Singlehaushalte, jeder fünfte Deutsche lebt allein. In der mobilen Gesellschaft wohnen Verwandte oft über die ganze Republik verstreut.

Dazu kommt, dass jede zweite Familie nur aus Eltern und einem Kind besteht, auch die Zahl der Alleinerziehenden wächst. Wer also auf vielfältige innige Beziehungen Wert legt, der muss fast zwangsläufig auf Freunde ausweichen. „Wahlbeziehungen ersetzen heute Familienbande“, schreibt der Soziologe Martin Hecht.

Auf Marion und Astrid passt das tatsächlich. Astrid ist Einzelkind. Marion hat zwar eine Schwester, aber die lebt im Ausland. Die Eltern sind für beide wichtige Bezugspersonen, aber ihren Alltag teilen sie doch lieber mit der Freundin. „Bei Astrid weiß ich, dass sie einfach immer da ist“, sagt Marion.

Freunde werden wichtiger, weil viele erst Mitte 30 eine eigene Familie gründen

Dass es Zeiten im Leben gibt, in denen Freunde wichtiger sind als die Familie, ist kein neues Phänomen. Spätestens ab der Pubertät orientieren sich Jugendliche lieber an ihrer Clique als an den „peinlichen“ Eltern. Früher war diese Phase allerdings auf die Kindheit und Jugend beschränkt, auf die Zeit also, bevor man in seinen 20ern dann selbst eine Familie gründete. Heute denken viele erst mit Mitte 30 daran, sich fest zu binden oder Eltern zu werden – wenn überhaupt.

So bleibt vorher viel Zeit, Freundschaften zu pflegen und natürlich auch mit jeder Menge Bedeutung aufzuladen. Denn mit Freunden verbringt man heute nicht einfach nur mehr Zeit, sie schlüpfen auch in ganz andere Rollen. Mit zunehmendem Alter geht es eben nicht mehr nur darum, über den Weihnachtsmarkt zu bummeln oder am Sonntagabend gemeinsam „Tatort“ zu gucken. Es geht vielleicht auch darum, im Alter gemeinsam zu leben.

Dieser Gedanke spielt auch für Anni Endress (62) und Sonja Schmucker (47) eine Rolle. Die beiden Freundinnen werden ab dem kommenden Jahr auf dem ehemaligen Gelände des Olgahospitals in Stuttgart zusammen mit sieben anderen Parteien ein Mehrfamilienhaus bauen. Die Lehrerin und die Architektin sind Mitglieder der Baugemeinschaft Max Acht, die sich aus Alleinstehenden, Paaren und Familien mit Kindern zusammensetzt. Jede Partei wird eine eigene Wohnung haben, aber es soll auch einen Gemeinschaftsraum gleich im Eingangsbereich geben.

Natürlich ist der Zusammenschluss zur Baugemeinschaft eine Möglichkeit, mitten in Stuttgart an eine bezahlbare Eigentumswohnung nach eigenen Vorstellungen zu kommen. Außerdem erlebt man so keine bösen Überraschungen mit den Nachbarn. Aber es geht noch um mehr.

Für Anni Endress und Sonja Schmucker geht es auch um die Frage, wie sie im Alter leben wollen: „Ich bin momentan alleinstehend. Ich finde es gut zu wissen, dass gleich nebenan Freunde wohnen werden, mit denen ich gute und schlechte Zeiten teilen kann. Die auch mal nach mir sehen, wenn ich krank bin“, sagt Sonja Schmucker. Anni Endress, die mit ihrem Mann einziehen wird, stellt sich vor, dass das Haus ein bisschen wie eine Großfamilie funktioniert. Bei Bedarf hilft man sich oder passt auf Kinder auf, aber man kann sich auch zurückziehen, wenn es einem zu viel wird.

Freundschaften sollten der Ehe gleichgestellt werden

Die Soziologin Julia Hahmann hat die Bedeutung von Freundschaften im Alter untersucht. Ihre Frage: Können Wahlverwandte echte Verwandte ersetzen? Eines ihrer Ergebnisse: Ja, aber nur für einen bestimmten Typ Mensch. Der hat einen höheren Bildungsgrad, ist mobil und individualistisch eingestellt und hat vielleicht schon erlebt, dass Paarbeziehungen bisweilen scheitern.

Julia Hahmann hat zudem untersucht, ob Freunde Betreuung und Pflege füreinander übernehmen können. Ihr Ergebnis in dieser Frage: „Ja, aber unter den derzeitigen Rahmenbedingungen kann das sehr anstrengend werden.“ Denn das Wohlfahrtssystem, die Gesetzgebung und Besteuerung in Deutschland bauen auf die Familie. „Wenn Freunde solche Aufgaben übernehmen wollen, müssen sie erst entsprechende Absprachen treffen oder Verträge schließen, sonst bekommen sie zum Beispiel im Krankenhaus keine Auskunft“, sagt Hahmann. Kümmerten sich verschiedene Personen um einen Freund, müssten die sich außerdem gut untereinander abstimmen.

Hahmann hat aus ihren Ergebnissen eine Forderung an die Politik abgeleitet: „Es müsste für Freunde die Möglichkeit geben, einen Solidarvertrag zu schließen, der eheähnliche Rechte und Pflichten zusichert“, sagt die Forscherin. Vorbild könnte die eingetragene Lebenspartnerschaft für homosexuelle Paare sein. Das wird auf politischer Ebene jedoch sehr kontrovers diskutiert.

Wenn Freunde überfordert werden, kann die Beziehung zu ihnen zerbrechen

Auf der anderen Seite warnt Julia Hahmann davor, Freundschaft von staatlicher und gesellschaftlicher Seite her zu überfrachten, sie zum einkalkulierten Teil eines Pflegekonzepts zu machen. Freundschaft sei bislang die letzte Beziehungsform „frei von Kosten-Nutzen-Denken“: „Wenn das Individuum jetzt dafür verantwortlich ist, Freundschaften zu haben, die Familie ersetzten können, dann kann das belasten und überfordern und Freundschaften zerstören“, sagt Hahmann.

Marion und Astrid könnten sich schon vorstellen, gemeinsam alt zu werden. Das Einzige, was dazwischenkommen könnte, das geben sie offen zu, wäre eine eigene Familie.