Daniel Rutz lebt seit zehn Jahren im Kastanienhof in der Ditzinger Ortsmitte. Foto: Simon Granville

Daniel Rutz lebt seit zehn Jahren im Kastanienhof in Ditzingen. Vom Alltag eines jungen Menschen mit Downsyndrom, den er sich auf charmante Weise täglich erarbeitet.

Gibt es einen Tag, an dem Daniel Rutz schlecht gelaunt ist? Wenigstens ein bisschen? Der 34-Jährige wird für einen Moment ernst. Dann lachen seine Augen wieder, er strahlt sein Gegenüber an. „Ich bin immer spaßbereit, immer glücklich. Ich bin nie traurig, immer fröhlich.“ Er sei „zufrieden mit sich und der Umwelt“, sagt seine Mutter. Sie sage das mit Stolz, gibt sie unumwunden zu. Denn es ist nicht so, dass Daniel Rutz in der Vergangenheit nicht seinen Lebensraum hätte erkämpfen müssen.

Der Kampf um die Selbstständigkeit

Was jede Eltern-Kind-Beziehung prägt, hatte im Fall des jungen Mannes mit Trisomie 21 eine weitere Komponente: Der heute 34-Jährige musste sich auch außerhalb des Elternhauses Normalität erkämpfen, jeden Tag aufs Neue. Im Supermarkt. Auf der Straße. Zugleich hatte er von jeher angekündigt, mit 25 von zuhause ausgezogen zu sein. „Das war dann auch wirklich so“, sagt seine Mutter. Sie sagt das mit großer Selbstverständlichkeit: Auch für sie als Eltern sei das völlig selbstverständlich gewesen. Seitdem lebt Daniel im Kastanienhof in der Ditzinger Ortsmitte, direkt neben dem Rathaus.

Die Behindertenhilfe hatte die Einrichtung mit den Einzelwohnungen und Wohngemeinschaften vor zehn Jahren eröffnet. Sie kam zum richtigen Zeitpunkt für Daniel Rutz. Seitdem pendelt er von dort zu seiner Arbeit in den Leonberger Teilort Höfingen. Nach Feierabend macht er, was andere auch machen – Faulenzen, sich mit Freunden austauschen, Musik machen. Und wenn er sich ärgert, weil der Lebensmittelmarkt im Ort dauerhaft schließt, macht er seinem Ärger dann schon auch mal direkt beim Oberbürgermeister Luft.

Probleme werden beim Bürgermeister direkt angesprochen

Warum nicht nutzen, dass dessen Amtssitz nur wenige Meter entfernt liegt? Daniel Rutz findet diese räumliche Nähe vor allem praktisch. Nicht wegen des Beschwerens, eher, weil es die Gespräche mit dem Verwaltungschef grundsätzlich erleichtere. Wenn er verärgert ist, wird das gleich geklärt. Dass er mit anderen Menschen Probleme bekomme, sei selten. Wenn, dann seien es Einzelfälle, sagt auch seine Mutter.

Für den Einrichtungsträger Atrio Leonberg, liegt hinter dieser Normalität eine lange Entwicklung, auch sprachlich: Ein Mensch mit Behinderung wird zum Klienten, sein Betreuer zur Assistenz in einer Begegnung auf Augenhöhe So erfolgreich dieser Aspekt der Inklusion klingt, so wenig schlug die Gesellschaft von sich aus diesen Weg ein. Darauf verweist Bernhard Siegle.

Die Situation hat sich stark verändert

Laut dem scheidenden Geschäftsführer des Einrichtungsträgers Atrio Leonberg hatten mehrere Faktoren zusammengewirkt: die EU-Menschenrechtskonvention, das Bundesteilhabegesetz sowie eine Weiterentwicklung auf fachlicher Ebene – also die Ausdifferenzierung der Angebote – und auch eine veränderte Haltung in der Gesellschaft. Gleichwohl ändere sich auch die Haltung der Menschen mit Behinderung und deren Eltern. Früher hätten Eltern ihre auch erwachsenen Kinder zuhause behalten wollen, „so lange wie möglich“, sagt Siegle. Heute hätten auch die Eltern andere Vorstellungen.

Vor 20 Jahren hatte der Vorläufer von Atrio, die Behindertenhilfe Leonberg, mitten im Ort gebaut. Heimstrukturen habe es nicht mehr. Vor zehn Jahren entstand dann der Kastanienhof in Ditzingen, dessen Erweiterung um zwölf Apartments derzeit in Kooperation mit der Stadt geplant wird. Außerdem errichtete der Träger das Mehrgenerationenhaus Mikado in Gerlingen.

Ein anderes Konzept im Nachbarort

Im Mikado belegt Atrio lediglich mehrere Wohnungen. Es ist ein Angebot für Menschen mit einem geringerem Hilfebedarf als im Kastanienhof. „Die Entwicklung wird weitergehen.“ Dessen ist sich Siegle sicher. Menschen mit Behinderungen seien heute nach wie vor nicht voll integriert. „Dafür gibt es noch einiges zu tun.“ Die Frage werde künftig sein, wie viel Eigenständigkeit möglich ist, also wie viel Assistenz für eine Person finanziert werde. Dafür sei eine Entwicklung, ein Prozess notwendig. „Das ist kein Selbstläufer in den Kommunen im Land.“

Das war es offenbar in Ditzingen nie. „Inklusion setzt eine Gesellschaft voraus, die ohne Schwellenängste miteinander umgeht“, sagt der Oberbürgermeister Michael Makurath. Deren Überwindung brauche gesellschaftliche Netzwerke. In Ditzingen spiele die jahrzehntelange Kooperation zwischen den beiden großen Kirchen, der bürgerlichen Gemeinde sowie den Eltern eine wichtige Rolle. Dies sei bereits seinem Amtsvorgänger Alfred Fögen ein wichtiges Anliegen gewesen.

Fögen kam 1982 ins Amt. Menschen mit Einschränkungen und deren Eltern falle es in einem integrativen Umfeld leichter, ihre berechtigten Anliegen geltend zu machen. „Ich sehe den Auftrag der Stadt darin, diese Entwicklung zu fördern und zu unterstützen“, sagt Makurath. Er lebe gerne im Kastanienhof, sagt Rutz. Vor seinem inneren Augen hat er ein klares Bild von seinem Leben: „Eine Frau mit Hund und ich.“

Menschen mit Behinderung fordern mehr Teilhabe

Gesetz
 Menschen mit Behinderungen sind nach dem Gesetz Menschen mit körperlichen, seelischen, geistigen oder Sinnesbeeinträchtigungen, die sie an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft länger als sechs Monate hindern. Menschen mit Down-Syndrom gelten in der Regel als schwerbehindert.

Zahlen
 Ende 2021 galten landesweit 957 415 Personen als schwerbehindert.

Forderung
 Das Bundesteilhabegesetz (BTHG) ist ein umfassendes Gesetzespaket, das bis 2023 in Kraft tritt. Es soll Menschen mit Behinderungen mehr Teilhabe und Selbstbestimmung einräumen.