Am künftigen Quartiersplatz drehen sich noch die Baukräne. Foto: Horst Rudel

Das Steingauquartier in Kirchheim wird erst 2024 in Gänze fertiggestellt – gilt aber schon jetzt als Vorzeigeprojekt. Bauliche und soziale Vielfalt ist hier Trumpf.

Es lebt sich richtig gut hier im Steingauquartier.“ Gernot Pohl sagt das nicht nur in seiner Funktion als Leiter der Abteilung Städtebau und Baurecht der Kirchheimer Stadtverwaltung, in der er am Werden und Wachsen dieses „städtebaulichen Leuchtturmprojektes“ maßgeblich mitwirkt. Er sagt das vor allem als einer der ersten Bewohner dieses Neubauviertels, in dem bis Anfang 2024 – wenn alle rund 350 Wohneinheiten fertiggestellt sind – etwa 800 Menschen leben werden.

Noch ist das nur einen Steinwurf vom Bahnhof und der Innenstadt entfernte Steingauquartier in Teilen eine Baustelle – während die Gebäude in den äußeren Bereichen bereits fertiggestellt und bewohnt sind, drehen sich am zünftigen Quartiersplatz noch die Baukräne. Alles in allem entstehen auf einer Fläche so groß wie vier Fußballfelder 45 Wohngebäude, die sich durch eine besondere Vielfalt auszeichnen.

Nach dem Vorbild des Französischen Viertels in Tübingen wächst in der unmittelbaren Nachbarschaft zum Nanz-Center eine bunte Kleinstadt heran mit Eigentums-, Miet- und Sozialwohnungen, Appartements und betreuten Wohngemeinschaften, mit Gewerbe-, Büro- und Praxisflächen sowie gastronomischen Angeboten – das inklusive Café der Werkstätten Esslingen-Kirchheim zum Beispiel ist bereits eröffnet. Darüber hinaus wird mit neuen Bautechniken experimentiert sowie ein nachhaltiges Energie- und Mobilitätskonzept verfolgt. So sind die Zufahrten zu den sieben Tiefgaragen an den Rändern des Quartiers platziert, das im Inneren nahezu autofrei ist – die S-Bahn befindet sich ja in der Nähe.

Ein lebendiges Viertel für alle Generationen, für jedes Einkommen, für unterschiedliche Lebensstile, für soziale und gewerbliche Nutzungen: Das Konzept der „Europäischen Stadt“ hatte Gernot Pohl bereits vor mehr als zehn Jahren ins Gespräch gebracht, als es um die Zukunft des sogenannten EZA-Areals ging, das lange Zeit schon brach lag. Damals seien er und die damalige Oberbürgermeisterin Angelika Matt-Heidecker heftig kritisiert worden, erzählt er schmunzelnd. Heute seien die Stimmen, die dem Rathaus eine „ideologisierte Stadtplanung“ vorgeworfen hatten, verstummt. Das Steingauquartier gilt inzwischen als bundesdeutsches Vorzeigeprojekt in der Stadtplanung und ist Teil der Internationalen Bauausstellung (IBA) 2027 Stadtregion Stuttgart.

Denn hier wird ein städtebauliches Modell umgesetzt, das Qualität und Gemeinwohlorientierung stärker in den Fokus rückt. Die Stadt Kirchheim hatte die Fläche zunächst als Ganzes erworben – nach zähen Verhandlungen mit der Nanz-Gruppe. Sie hätte sie gut und gern an einen großen Projektentwickler veräußern und somit viel Geld einnehmen können. „Interessenten gab es genügend“, berichtet Gernot Pohl.

Doch mit knapper Mehrheit entschied sich der Gemeinderat im Jahr 2015 anders: Um die gewünschte Wohnvielfalt zu ermöglichen, wurden die einzelnen Grundstücke in einem Konzeptverfahren an lokale Bauträger, Einzelbewerber und Baugruppen vergeben. Ausschlaggebend waren dabei „weiche Kriterien“ wie ökologische Besonderheiten oder soziale Aspekte. „Da ging es nicht nur um die Frage, was das Projekt dem Steingauquartier bringt, sondern auch, was es der Stadtgesellschaft insgesamt bringt“, erläutert Gernot Pohl.

Die Baugruppen konnten sich selbst organisieren und ihre Ideen innerhalb der von der Stadt vorgegebenen Kriterien entwickeln. „Jedes Haus ist dadurch einzigartig“, schwärmt der Stadtplaner beim Gang durch „sein“ Viertel. Und auch zwischen den Häusern ist urbanes Leben möglich. Die individuell gestalteten Innenhöfe sind quasi das zweite Wohnzimmer für die Bewohner.

Gernot Pohl gehört einer der insgesamt 16 Baugruppen im Quartier an. Mit einer ausladenden Armbewegung zeigt er auf ein markantes Acht-Familien-Haus mit dunkler Fassade und geschwungenen Balkonen, das er mit weiteren Privatleuten und der Kreisdiakonie gebaut hat. Dort ist er vor gut einem Jahr eingezogen. Das Einfamilienhaus in Nürtingen habe nicht mehr zu seinem Lebensabschnitt gepasst – zu ruhig, zu weit weg vom städtischen Leben sei es gewesen, sagt er. „Ich will in einem belebten Quartier leben, wo die Wege zum Einkaufen, zur Arbeit oder zur Kultur kurz sind.“

Und wo er die Nachbarn kennt. Sie sind in seinem Haus willkommen – im Erdgeschoss ist eine kleine Werkstatt eingerichtet, die jeder nutzen kann. Auch in anderen Gebäuden gibt es Gemeinschaftsräume. „Es ist gewünscht, dass sich die Bewohner im Quartier in irgendeiner Form einbringen“, sagt Gernot Pohl. „Aber es ist nicht Pflicht.“ Geplant sei auch ein Quartiersmanagement. „Entstehen sollen freiwillige, aber gleichwohl robuste und langfristig wirksame Strukturen, die das soziale Miteinander im Quartier fördern“, erklärt der Stadtplaner.

Das Kirchheimer Steingauquartier

Entwicklung
Das Steingauquartier entsteht auf einem 3,5 Hektar großen Teil des früheren „Einkaufszentrums für Alle“ (EZA), das im Besitz der Nanz-Gruppe war. 2010 wurden erste Ideen für eine Wohnbebauung entwickelt und ein städtebaulicher Wettbewerb durchgeführt. 2015 hat der Gemeinderat den Weg für die Neuordnung freigemacht. Auf sieben Baufeldern werden in mehreren Bauabschnitten individuelle Wohnkonzepte umgesetzt. Der Spatenstich erfolgte Anfang 2018, mit Fertigstellung des kompletten Quartiers wird Anfang 2024 gerechnet.

Führungen
Das Steingauquartier kann man bei Führungen besichtigen. Die nächsten Termine sind: Donnerstag, 21. Juli, Donnerstag, 11. August, und Mittwoch, 14. September, jeweils um 17 Uhr. Die Teilnehmerzahl ist begrenzt, eine Anmeldung erforderlich: per E-Mail an planung@kirchheim-teck.de oder Telefonnummer 0 70 21/50 24 38.