Derzeit beherbergt die Lea in Ellwangen rund 600 Flüchtlinge. (Symbolbild) Foto: dpa

Flüchtlinge leisten vor 100 Tagen heftigen Widerstand. Ellwangen wird zum Inbegriff für polizeiliche Ohnmacht - bis der Staat durchgreift. Die Schlagzeilen sind verblasst. Doch Rückführungen gelingen auch heute nur selten.

Ellwangen - Sie rücken vor dem Morgengrauen an, in Bataillonsstärke. Hunderte bewaffnete Polizisten in Dutzenden von Einsatzwagen. Vor Kameraleuten und Reportern demonstriert der Staat am 3. Mai 2018 in der Landeserstaufnahmeeinrichtung (Lea) Ellwangen Stärke und Entschlossenheit. Rasch verbreitet sich die Botschaft - wohl nicht unbeabsichtigt - über soziale Netzwerke auch in anderen Flüchtlingsunterkünften: Widerstand gegen Abschiebungen ist zwecklos.

Wenige Tage zuvor hatten sich nach Angaben der Polizei vier Beamte von einer Menge von bis zu 150 aufgebrachten Flüchtlingen bedroht gefühlt. Sie wollten einen Asylbewerber aus Togo - später hieß es, er stamme aus Ghana - zur Rückführung nach Italien abholen. Die Beamten zogen sich zurück. Das sei „Staatsversagen“, tönte die AfD.

Einsatz als Erfolg gewertet

Die Landesregierung wertet den Einsatz als Erfolg. Innenminister Thomas Strobl (CDU): „Die Polizei hat das einzig Richtige getan: Sie hat die Lage umfassend bewertet und dann mit ganzer Konsequenz geantwortet. Das Signal ist sehr deutlich: Rechtsstaat und Polizei setzen sich durch, nicht der Mob!“ Die seinerzeit laut gewordene Kritik an der Polizei stelle sich „in der 100-Tage-Rückschau als das dar, was sie war: substanzlos, verantwortungslos, maßlos“, sagt Strobl.

Der Westafrikaner war bei der Razzia in Gewahrsam genommen und kurz darauf nach Italien gebracht worden. Mutmaßliche Rädelsführer des Widerstands wurden in andere Einrichtungen verlegt. Kosten des Großeinsatzes laut Innenministerium: 360 000 Euro. 100 Tage nach der bis dato wohl umfangreichsten Polizeiaktion in einer Flüchtlingsunterkunft der Republik geht in Ellwangen alles wieder seinen Gang. „Die Normalität war bald wieder zurückgekehrt, wenige Wochen danach haben wir friedlich den Ramadan gefeiert“, sagt Lea-Leiter Berthold Weiß.

Der 55-Jährige leitet die Einrichtung seit ihrer Gründung im „Krisenjahr“ 2015. Er bringt Verständnis für Flüchtlinge auf, nennt sie „unsere Gäste“. „Aber wir haben immer klargemacht, dass aktiver Widerstand gegen die Staatsgewalt absolut nicht hingenommen wird.“ Passiver Widerstand gegen Rückführungen gehört allerdings in Ellwangen, wie in ähnlichen Einrichtungen, zur „Normalität“: Nach wie vor entziehen sich ausreisepflichtige Flüchtlinge der Abholung durch die Polizei.

Polizei kommt mehrmals pro Woche zu Abholungen

„An der Grundproblematik hat sich nichts geändert“, sagt Weiß. Das zeigt schon ein Blick auf die Statistik der Zu- und Abgänge in seiner Einrichtung. Seit Anfang Mai gab es rund 35 Versuche, Flüchtlinge auf Weisung des Stuttgarter Regierungspräsidiums für Rückführungen in andere EU-Staaten abzuholen. Nur einer von fünf war erfolgreich - ein Schnitt fast genauso wie im Jahr vor der Großrazzia.

Derzeit beherbergt die Lea rund 600 Flüchtlinge. 380 sind aus afrikanischen Ländern südlich der Sahara gekommen, die meisten über Italien. Nach den Dublin-Vereinbarungen müssten sie dorthin zurückkehren. Zu Abholungen kommt die Polizei zwei bis drei Mal in der Woche. Fast immer nach Mitternacht - zwar mit deutlich mehr Leuten als früher, doch genauso oft vergeblich. „Normal? Das ist Angst, jede Nacht“, sagt ein junger Nigerianer, der nicht identifiziert werden will. „Wir verstecken uns, wir tauschen Zimmer, viele schlafen irgendwo im Gelände.“ So soll verhindert werden, dass Gesuchte anhand des Belegungsplans der Lea gefunden werden können.

Dass es in den Blocks der einstigen Reinhardt-Kaserne ein „bewohnerinternes Alarmierungssystem“ gibt, gilt als offenes Geheimnis. Nach außen hält sich die Polizei bedeckt: „Zur polizeilichen Einsatztaktik können wir uns nicht äußern“, sagt Rudolf Biehlmaier, Sprecher des für Ellwangen zuständigen Präsidiums Aalen. „Wir können aber bestätigen, dass es in den letzten drei Monaten keinen Widerstand gab.“

Dass die Abholversuche nachts stattfinden, hat kaum etwas mit einer Überraschungstaktik zu tun, sondern eher mit den komplizierten Regeln für Dublin-Überstellungen und mit der deutschen Rechtslage. „Staaten, in die überstellt werden soll - in diesem Fall also Italien - dürfen dafür bestimmte Wochentage und Zeitfenster festlegen“, erklärt Muzaffer Öztürkyilmaz, Jurist und Experte für Abschieberecht bei der Hilfsorganisation Flüchtlingsrat. Zudem sei Abschiebehaft für normale Fälle von Rückführungen ungesetzlich. „Kein Richter ordnet sie an.“

Fehlende Rechtsgrundlage

Mit anderen Worten: Die Polizei hat jeweils nur wenige Stunden, um einen Flüchtling, dessen Rückführung angeordnet wurde, noch rechtzeitig vor Büroschluss den Behörden auf dem Flughafen in Mailand zu übergeben. Dafür müssen Flieger am frühen Vormittag erreicht werden. Daher also die Abholung nicht schon einen Tag vorher, sondern erst in den Morgenstunden am Tag der geplanten Rückführung. „Alles wäre einfacher“, sagt Weiß, „wenn eine Rechtsgrundlage bestehen würde, dass man Leute rechtzeitig vor Rückführungen polizeilich in Gewahrsam nehmen könnte. Das würde die Situation entspannen.“

Eine Belastung ist das „Katz-und-Maus-Spiel“ nicht allein für die Flüchtlinge, die sich an die Hoffnung auf ein Bleiberecht oder wenigstens eine Duldung in Deutschland klammern. Auch für die Beamten seien die Einsätze schwierig, sagt Hans-Jürgen Kirstein, Landesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei (GdP). „Sie stehen unter öffentlichem Druck, Erfolge nachzuweisen.“ Zudem würden durch die Nachteinsätze wegen Personalmangels die Ruhephasen für viele Polizisten immer kürzer. „Dieses Auslutschen der letzten Reserven geht an die Grenzen.“