War schon als Kind fasziniert vom Zauber der Zahlen: Uwe Streich, Analyst bei der LBBW Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Der LBBW-Analyst Uwe Streich hat das deutsche Börsenbarometer durch Höhen und Tiefen begleitet: Seit seiner Ausbildung in den 80er Jahren beschäftigt er sich mit Aktien. Der Dax ist für ihn eine Erfolgsgeschichte.

Stuttgart - John, Paul, George, Ringo – und Bulle und Bär. Die Kombination aus Beatles und Börsenmaskottchen im Büro von Uwe Streich verrät: Hier ist ein Aktienexperte am Werk, der den Markt nicht erst seit dem Börsengang der Telekom in den 90er Jahren beobachtet. Regelmäßig wird der LBBW-Analyst von der Wirtschaftspresse als „Index-Experte“ befragt. Denn so lange und intensiv wie Streich beobachten selbst in seiner Zunft nur wenige den Deutschen Aktienindex (Dax), der am Sonntag 30 Jahre alt wird.

Fragt man Streich nach den Aussichten für den Dax im Jubiläumsjahr, so hat der 53-Jährige sofort die wichtigsten Zahlen parat: „Die drei großen Autohersteller und der Zulieferer Continental haben zusammen einen Anteil von 23 Prozent an den zu erwartenden Gewinnen der Dax-Unternehmen.“ Sollte US-Präsident Donald Trump seine Drohung wahr machen und in Europa gebaute Autos mit höheren Einfuhrzöllen belegen, so stünde der deutsche Leitindex also vor einer echten Belastungsprobe.

„Insgesamt hat sich der Dax prächtig entwickelt“

Gewiss, der Dax hat schon Schlimmeres überstanden. Streich hat erlebt, wie nach den Anschlägen vom 11. September 2001 die Kurse in den Keller sausten und vor zehn Jahren erneut nach der Pleite der US-Investmentbank Lehman Brothers. Mehr als 40 Prozent verlor der Dax im Jahr 2008 und in der durch die Terroranschläge ausgelösten Rezession 2002. Langfristig aber, da ist der Börsenexperte überzeugt, lohnen sich Aktieninvestitionen. „Seit seinem Start hat sich der Dax trotz seiner insgesamt acht Verlustjahre prächtig entwickelt.“ Bei seiner Einführung am 1. Juli 1988 stand das Börsenbarometer bei 1163 Punkten, heute sind es über 12 000.

Ein wenig Wasser muss Streich allerdings in den Wein gießen: „Man hat den Dax so konstruiert, dass der Anstieg dramatischer aussieht, als er es im Vergleich mit anderen Indizes wirklich ist.“ Der Index bildet nämlich nicht einfach die Kursentwicklung der 30 Dax-Konzerne ab, sondern auch deren Dividendenzahlungen – wobei unterstellt wird, dass diese Ausschüttungen sofort wieder in neue Aktien investiert werden. Der um diesen Effekt bereinigte Dax-Kursindex, der internationalen Gepflogenheiten entspricht, notiert bei weniger als 6000 Zählern.

Bei der Statistik ist Streich in seinem Element. Schon als Kind habe er den Zauber der Zahlen entdeckt, sagt der Analyst: „Wenn ich krank war, habe ich im ‚Fischer-Weltalmanach‘ geblättert und angefangen, die Länder beispielsweise nach Einwohnerzahl oder Bevölkerungsdichte zu sortieren.“ In Zahlen nach Mustern und Zusammenhängen zu suchen ist heute der Kern seiner Arbeit. „Dahinter steckt eine Art Entdeckergeist. Du hast viele Zahlen und meistens auch schon eine Ahnung, was bei der Analyse herauskommen könnte – aber sicher weißt du es eben nicht.“

Die Märkte haben sich radikal verändert

Trotz aller Berechnungen und Erfahrungen überrascht der Aktienmarkt auch einen wie Streich immer wieder. Als Schlüsselerlebnis nennt er den kometenhaften Anstieg der Volkswagen-Aktie im Herbst 2008, als die Papiere kurzzeitig mehr als 1000 Euro kosteten: „Da saßen wir alle fassungslos vor den Bildschirmen, man konnte es nicht wirklich glauben.“ Immerhin gab es damals eine Erklärung, nämlich den Versuch des Sportwagenherstellers Porsche, VW zu übernehmen. So manche Kursbewegung aber ist auch für Streich in ihrer Heftigkeit nicht nachvollziehbar: „Man sieht einfach, dass die Märkte auf jede Nachricht sofort reagieren – die Investoren sind Getriebene.“

Mitte der 80er Jahre, als Streich eine Ausbildung zum Bankkaufmann bei der Bayerischen Hypotheken- und Wechselbank in Reutlingen machte, sah dies noch anders aus: „Damals haben wir gegen Mittag die Kassakurse ausgewählter Aktien aus der Zentrale in München bekommen, ausgedruckt und ins Schaufenster gehängt“, sagt er. Die Kurse der übrigen Titel erfuhr man erst tags darauf aus der „Börsen-Zeitung“. Die Einführung des Dax hat das radikal verändert. Anstelle der Preise einzelner Wertpapiere rückte der Index selbst in den Mittelpunkt des Interesses – nicht zuletzt dank der großen Anzeigetafel, die im Oktober 1988 im Handelssaal der Frankfurter Börse aufgehängt wurde. Sie wurde fester Bestandteil der Fernsehnachrichten.

Streich widmete wenig später seine Diplomarbeit der technischen Analyse von Aktienkursen, wurde Fondsmanager bei der Deutschen Bank und dann Aktienstratege der LBBW. Die Kursentwicklung hat er dort ständig im Blick, der Chart mit dem Tagesverlauf des Dax leuchtet auf einem seiner drei Computerbildschirme. Das Gefühl, am Puls der Zeit zu sein, gehört für ihn zu den großen Reizen seines Jobs: „Dass einzelne Ereignisse alles auf den Kopf stellen können, das ist erlebte Zeitgeschichte.“

Am Puls der Zeit

Was den Zahlenmenschen Streich allerdings irritiert, ist die Unberechenbarkeit des amtierenden US-Präsidenten. Vielleicht pokere Trump im Handelskonflikt einfach nur hoch, um nationale Interessen durchzusetzen: „Wenn er jetzt einhält und sich mit dem Erreichten zufriedengibt, kann sich der Dax schnell wieder erholen. Andernfalls besteht das Risiko, dass Trump die Konjunktur irreparabel beschädigen könnte.“ Eine Prognose für die nahe Zukunft ist deshalb selbst für den Index-Experten schwierig: „Was Trump wirklich möchte, weiß wohl nur er selbst.“