Bundesweit liegt die Zahl der Erwerbsfähigen, die bereits länger als ein Jahr ohne Arbeit sind, bei 900 000. In Baden-Württemberg gibt es derzeit 62 000 Langzeitarbeitslose. Foto: Imago

Eine Gruppe profitiert kaum vom Jobaufschwung: ältere Langzeitarbeitslose. Oft gibt es ein Bündel von Hemmnissen, die eine reguläre Beschäftigung unmöglich machen. Vereine wie Arbi in Reutlingen helfen ihnen – fachlich und vor allem menschlich.

Stuttgart - Die Kündigung hat ihr den Boden unter dem Füßen weggezogen. „Wenn man fünfzehn Jahre lang bei einer Firma arbeitet und dann vor die Tür gesetzt wird, fühlt sich das extrem schlimm an“, erklärt Silvia Bauer (Name geändert) mit brüchiger Stimme. An den folgenden Tagen habe die damals 55-Jährige nichts mit sich anzufangen gewusst: „Ich bin rausgegangen, hab mich auf die nächste Parkbank gesetzt und stundenlang in die Gegend geschaut.“ In ihren Gedanken kreisten viele Fragen: Wie geht es weiter? Hab ich in meinem Alter überhaupt noch eine Chance? Was, wenn nicht?

Das Geld wurde knapp. Ihr damaliger Mann habe sie unterstützt, das Häuschen konnten die beiden gerade eben abbezahlen, aber an eine Urlaubsreise, wie sie sie zuvor in jedem Jahr gemacht hatten, war nicht mehr zu denken. Ihre beruflichen Perspektiven, das wurde der gelernten Kinderpflegerin schnell klar, sind mehr als bescheiden. „Du bist zu alt fürs Arbeitsamt, aber zu jung für die Rente“, sagte sie sich. Durch die kommenden fünf Jahre hangelte sich Bauer, die auch schon als Sachbearbeiterin und in der Produktion gearbeitet hat, mit Leiharbeitsverhältnissen und Minijobs. Seit zwei Jahren hat sie gar keine Arbeit mehr gefunden.

Damit ist sie eine von gut 62 000 Langzeitarbeitslosen in Baden-Württemberg. Als langzeitarbeitslos gelten Menschen, die länger als ein Jahr keine Arbeit finden, in vielen Fällen sind die Betroffenen schon seit mehreren Jahren aus dem Berufsleben raus. Und je länger es dauert, desto schwieriger wird es, zurückzukommen. Oft steht ein ganzes Bündel von Hürden einer Beschäftigung im Weg. Das reicht von fehlender Schul- oder Ausbildung und mangelnden Qualifikationen über die Betreuung von Kindern oder pflegebedürftigen Angehörigen bis zu eigenen gesundheitlichen Einschränkungen. Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit sind ein Drittel der derzeit rund 900 000 Langzeitarbeitslosen in Deutschland gesundheitlich beeinträchtigt. Mehr als ein Viertel ist über 55.

Im Landkreis Reutlingen herrscht nahezu Vollbeschäftigung

Silvia Bauer, die sich selbst als „kerngesund“ beschreibt, hat nach fehlgeschlagenen Bewerbungen oder Terminen im Jobcenter immer wieder das Gefühl, sie sei zu alt oder zu inkompetent. Jedenfalls spürte sie persönlich nichts vom Aufschwung am Arbeitsmarkt oder der Rekordbeschäftigung. Im Landkreis Reutlingen herrscht nahezu Vollbeschäftigung, die Arbeitslosenquote liegt mit 3,4 Prozent noch unter dem Schnitt im Land und deutlich unter der bundesweiten Quote von 5,6 Prozent.

Wer trotz des Jobbooms nicht in Arbeit findet, landet über kurz oder lang beim örtlichen Jobcenter. Dessen Leiterin Erika Holstein kennt die Situation von Klienten, die „im Leben falsch abgebogen“ oder „von Schicksalsschlägen betroffen“ sind und nicht aus der Langzeitarbeitslosigkeit herausfinden. „Diese Menschen brauchen Hilfe und Übersetzungshilfe in einem komplizierten Leistungsrecht. Das bringt meine Mitarbeiter oft an ihre Grenzen“, sagt Holstein. Anträge für die Kunden ausfüllen, dürfen Jobcenter-Berater beispielsweise nicht.

Unterstützung bei Anträgen, Formularen und Behördenbriefen, aber auch bei Bewerbungen und Lebensläufen erhalten Menschen wie Silvia Bauer beim Verein Arbeiterbildung (Arbi) in Reutlingen. Dort ist Horst Mielis so etwas wie die gute Seele. Der 64-jährige Industriekaufmann schildert seine Erfahrungen bei der Beratung von Langzeitarbeitslosen: „Die Menschen, die zu uns kommen, sind total runtergedrückt.“ Schon der Begriff „Zeitarbeit“ sei für viele ein rotes Tuch: Einige hätten in zehn Jahren zehn verschiedene Arbeitgeber gesammelt. Andere berichten ihm davon, wie „einfallsreich“ Arbeitgeber werden, um den Mindestlohn zu unterlaufen.

Menschen motivieren ist eine Kernaufgabe des Vereins

Solche prekären Beschäftigungserfahrungen steigern das Selbstwertgefühl der Betroffenen sicher nicht. Mielis sagt ihnen dann: „Du hast doch etwas Gutes gelernt!“ Vorhandene Kenntnisse in der Bewerbung hervorzuheben und Menschen zu motivieren, damit sie gegenüber einem möglichen Arbeitgeber sicher und selbstbewusst auftreten, betrachtet er als eine Kernaufgabe des Vereins, der 1981 gegründet wurde.

Etwa 30 Personen kommen jede Woche in die Arbi-Räume in der Reutlinger Innenstadt. Darunter sind ein Drittel Erst- und zwei Drittel Folgekontakte, erklärt die Vereinsvorsitzende Carola Rau. Mit Angeboten wie einer Frühstücksgruppe, einem von Horst Mielis geleiteten Kochtreff und neuerdings auch einem Gemeinschaftsgarten leisten die größtenteils ehrenamtlichen Helfer neben der bürokratischen Unterstützung auch Sozialhilfe. Auch wenn er selbst schon mal Klinken bei Unternehmen putzt, um für einen Schützling zu werben, sieht sich Mielis nicht als Vermittler. Zumal die Aussichten auf einen Job – trotz des Rückgangs der Langzeitarbeitslosigkeit im Südwesten um acht Prozent innerhalb der vergangenen zwölf Monate – für viele Arbi-Besucher alles andere als günstig sind. „Sie sitzen zwischen den Stühlen: sind faktisch nicht erwerbsfähig, bekommen aber auch keine Erwerbsminderungsrente“, sagt Rau.

Für Silvia Bauer endet der ernüchternde Bewerbungsmarathon bald. Doch auch das hat seinen Preis: Weil sie vom Jobcenter mit 63 Jahren dazu verpflichtet wird, Frührente zu beantragen, muss sie einen deutlichen Abschlag in Kauf nehmen. „Das ist auch unverschämt“, sagt sie. „Mir bleiben dann vielleicht noch 800 Euro im Monat.“

Der Verein Arbi – Anlaufstelle für Erwerbslose und Geringverdiener

Verein
Die Arbeiterbildung (Arbi) in Reutlingen ist seit 1981 eine Anlaufstelle für Erwerbslose, Geringverdiener und Sozialhilfeberechtigte. Etwa 1000 Beratungen pro Jahr belegen den großen Bedarf.

Hilfen
Mitarbeiter der Arbeiterbildung prüfen und erklären Bescheide und helfen Betroffenen beim Ausfüllen von Anträgen, vom Wohn- und Kindergeld bis zum Hartz-IV-Antrag. Die Sozialberatung umfasst auch Fragen zum Mietrecht und zur Jugendhilfe. Langzeitarbeitslose werden bei der Suche nach Stellen und Bewerbungen unterstützt und zu Terminen beim Jobcenter begleitet.

Finanzierung
Der Verein finanziert sich über private Spenden, Beiträge von derzeit 50 Mitgliedern und Fördergelder etwa von Land und Kommune. Seit 2012 erhält Arbi einen Landeszuschuss von jährlich 50 000 Euro. Davon werden die Personalkosten für eine 70- und eine 40-Prozent-Stelle finanziert.