Claudia Mahnke als Judith, Falk Struckmann als Blaubart und das Staatsorchester im Paketpostamt Foto: Matthias Baus

Passt eine Oper ins Stuttgarter Paketpostamt? In Béla Bartóks Einakter „Herzog Blaubarts Burg“ glänzen dort Orchester und Sänger, und Hans op de Beecks Bühnenbild ist stark. Nur der dekorative Rahmen drumherum hätte wirklich nicht sein müssen.

Stuttgart - Blaue Luftballons im Park. Ja, lächelt eine junge Frau, die an einer Wegkreuzung nahe des Rosensteinmuseums einen von ihnen an der Hand hält, man habe sich nicht verlaufen: Hier gehe es lang zur Oper, geradeaus und beim nächsten Ballon links, es sei nicht mehr weit. Weitere freundliche Wegweiser säumen den Pfad, Rad-Rikschas nähern sich, und vor dem Gebäude, das eigentlich als Verladestation verpackter Güter dient, steigen Besucher aus einem langen Shuttlebus. Die Staatsoper gibt sich richtig Mühe. Schließlich soll keinesfalls eintreten, was immerhin zu befürchten stand: dass man die Kunst an diesem versteckten Ort schlichtweg nicht findet.

Drinnen, wo mal die Interimsspielstätte der Staatsoper während ihrer dringend anstehenden Sanierung sein sollte, wird Musiktheater gegeben. Béla Bartóks Einakter „Herzog Blaubarts Burg“ von 1911 ist der einzige Beitrag des ungarischen Komponisten zur Gattung. Ein Stück, das zum Motto des Fragens (und der Frageverbote) passt, mit dem das Stuttgarter Leitungsteam unter dem neuen Intendanten Viktor Schoner seine erste Spielzeit überschrieben hat. Ein Zwei-Personen-Beziehungs-Kammerspiel, das verhandelt, was zwischen Menschen gesagt und gewusst werden darf und sollte. Ein Stück das in einer Burg spielt, deren Dunkelheit die Seele des Titelhelden widerspiegelt.

Auch der Bereich der riesigen Halle, den die Oper jetzt zum Foyer und zum Spielraum des Stücks gemacht hat, ist ziemlich dunkel. Draußen, vor dem mit schwarzen Tüchern abgetrennten Aufführungsraum, gibt es Garderoben, Abendkasse, Getränke, und unter roten Ballons sammeln sich Zuschauer. In Gruppen wird man dann in einen Vorraum hineingelassen, der einer schwarz verpackten Sporthallen-Umkleide ähnelt: Gummi-Überschuhe muss man sich hier überstreifen, denn beim Durchschreiten des Bühnenbildes soll man trockene Füße behalten. Florian heißt einer der Führer. In der Umkleidekabine redet er, während es ringsumher noch ziemlich lärmig zugeht, von Stille; er verstehe sich als Zeremonienmeister, lädt zu einem „Spaziergang durch den Morast der Tragödie“. Im zweiten Vorraum erfährt man von ihm, dass man gleich zum Voyeur werden wird. Und dass man einem „unmöglichen Paar“ begegnen werde – sie komme aus bürgerlichem Ambiente, während er „sein Leben lang unterwegs gewesen“ sei und nun „ihr Licht in seiner Dunkelheit ertragen“ müsse.

Das Publikum schlappt in Gummischuhen durch den Tränensee

Dann schlappt die Gruppe so wie etliche andere vor und nach ihr im Gänsemarsch zu ihren Sitzen, mitten durch das Wasser (den Tränensee?), das hier etliche kleine Inseln mit schwarzem Sand, Feuertonnen und winterlich kahler Flora sowie einen langen schwarzen Steg umspielt. Der Künstler Hans op de Beeck hat das Bühnenbild entworfen, er verantwortet an diesem Abend auch die Regie – und den Rahmen, den man dem Einstünder hier gegeben hat. Auf diesen hätte man allerdings locker verzichten können: Bis das Stück mal losgeht, vergehen fast vierzig lange Minuten, die intendierte ironische Reibung wirkt aufgesetzt, die betont lockeren Stück-Erklärungen der Guides haben etwas von Publikumsentmündigung, von hier aus ist es nicht mehr weit zu Loriots süffisant-banaler Feststellung „Männer und Frauen passen einfach nicht zusammen“, und überhaupt ist Bartóks Werk stark genug, um den Abend ganz alleine zu tragen.

Den szenischen Kern der Aufführung berührt die aufwändige Kunstverpackungsorgie immerhin nicht. Das Bühnenbild ist atmosphärisch stark, ein guter Spielort, der so wie die starken Momente von op de Beecks Inszenierung dort am zwingendsten ist, wo er sich auf Abstraktion beschränkt und alles Konkrete vermeidet. Bei diesem „Blaubart“ öffnet sich keine Tür. Alles, was hier das Drama vorantreibt, ist im Kopf der Figuren wie der Zuschauer – und in den Klängen der Musik. Immer wieder wenden sich der Mann und die Frau auf dem Steg, voneinander abgestoßen und zueinander hingezogen wie zwei Magneten, dem Staatsorchester zu, das in großer Runde vor dem Anfang des Steges postiert ist. Hier, nur hier, hört man all das, was eigentlich weder Worte noch Fragen braucht. Hier öffnen sich die Türen zu den Seelenkammern des Mannes. Der Dirigent Titus Engel gelingt es, das Undurchdringliche hell und klar zu machen und die Musik dabei dennoch glühen und blühen zu lassen. Große Präzision paart sich mit einer packenden Sinnlichkeit, die Nachromantisches ebenso enthält wie impressionistisches Klangfarb-Bewusstsein, große expressionistische Gesten, frei Tonales und zuweilen gar einen von ungarischer Volksmusik inspirierten tänzerischen Grundpuls. Fein differenziert Engel auch die Dynamik, die von einem runden, weichen, tiefen Streicher-Pianissimo zu Beginn ihren Ausgang nimmt. Der stärkste gemeinsame Moment von Szene und Musik ereignet sich nach dem Öffnen der fünften Tür: Wenn hier acht Blechbläser einen der strahlendsten C-Dur-Akkorde der Musikgeschichte auf der dem Orchester gegenüberliegenden Saalseite intonieren, dann ist das, auch weil man spürt, das er der Anfang vom Ende ist, ein richtiger Gänsehaut-Moment.

Claudia Mahnke lässt auf packende Weise die Gefühle eskalieren

Für andere, weitere sorgen die Sänger. Claudia Mahnke zuallererst: Sie gibt der Judith sängerisch wie darstellerisch und mit zahlreichen berückenden leisen Tönen Wärme, Kraft, Farben, Innigkeit, dazu eben jene naive Unbedingtheit, die ihr beharrliches Fragen („Gib mir deine Schlüssel, Blaubart, gib sie mir, weil ich dich liebe!“) glaubwürdig erscheinen lässt, und auf packende Weise lässt sie die Gefühle eskalieren. Dass Falk Struckmann in der Höhe eng, zuweilen flattrig singt, ja gelegentlich gar ein wenig stemmen muss, sieht man ihm nach, denn sein Blaubart ist von großer Intensität.

Die erotische Spannung zwischen dem Paar über eine Stunde hinweg hoch zu halten, gelingt dem Regisseur wie den Darstellern zwar nicht ganz, aber zu sehen und zu hören sind immer wieder berückend intime Klänge und Gesten. Sie gipfeln darin, dass Hans op de Beeck das Ende auf sehr eigene Weise umkehrt. Im Libretto von Béla Balász stehen die beiden letzten Kammern zwar für jene Bereiche der Seele, die man mit niemandem teilen kann, aber indem Judith als vierte Frau in das Zimmer ihrer drei Vorgängerinnen eintritt, sorgt sie dennoch ganz system- und geschlechterrollenkonform für so etwas wie die Erlösung des Ritters. Es gab schon Regisseure, die das Machtverhältnis umgekehrt und der Sängerin ein Messer in die Hand gegeben haben. Op de Beeck löst die Angelegenheit jetzt ebenso still wie zwingend: Die starke, emanzipierte Frau, die anfangs mit einem Rucksack auf den Schultern das Wasser zum Geliebten durchschritten hat, lässt sich von Blaubart ihr Gepäck wieder auf den Rücken laden. Sie hat erkannt, was eigentlich von Beginn an klar war und von Bartók so zwingend in viele, sich aneinander abarbeitende Sekundintervalle gekleidet wird: dass diese Beziehung nicht funktionieren kann. Sie geht, wie sie gekommen ist. „Nacht“, singt Blaubart dazu, „bleibt es nun ewig.“ Ein starkes Stück.