1800 Lkw steuern Tag für Tag das Daimler-Werk in Sindelfingen an. Am Montag war darunter erstmals ein Lang-Lkw. Weitere Strecken sollen in den nächsten Wochen folgen.

Sindelfingen - Um sechs Uhr morgens herrscht an Tor 5 vor dem Daimler-Werk in Sindelfingen Hochbetrieb. Über den Himmel rasen dunke Wolkenfetzen, unten stehen die Sattelzüge Schlange, um auf das Gelände fahren zu dürfen. Ein halbe Stunde später als angekündigt biegt Rüdiger Elflein mit seinem orangefarbenen Lang-Lkw um die Ecke. Problemlos passiert er die Einfahrt, fährt gemächlich an den Kamerateams und Fotografen vorbei in Richtung Lagerhalle. Es ist der erste XXL-Laster, der das Werk ansteuert, nachdem der Bund vergangene Woche die Teilnahme Baden-Württembergs am Feldversuch mit den 25,25 Meter langen Fahrzeugen genehmigt hat. Im Gepäck hat Elflein Kunststoffteile eines Zulieferers aus Bautzen für die E-Klasse. Bisher musste er diese am Hauptsitz des Logistikunternehmens in Bamberg umständlich auf zwei kleinere Lastwagen umladen. Seit eineinhalb Jahren saß Elflein nicht mehr selbst am Steuer, jetzt steigt er gut gelaunt aus dem Fahrzeug.

Herr Elflein, wie war die Fahrt?
Es lief vollkommen unspektakulär. Wir sind ja fast nur auf der Autobahn unterwegs. Wenn da Autos überholen, erkennen die meistens nicht einmal, dass dieser Lkw länger ist als normal.
Aber Sie mussten einen kleinen Umweg machen?
Nach der Abfahrt bei Böblingen-Hulb hat uns die Kommune untersagt, über eine Brücke zu fahren, obwohl wir ja nicht schwerer sind als andere Lastwagen. Jetzt machen wir einen kleinen Umweg von einem halben Kilometer, aber das ist unproblematisch.
Warum wollten Sie auch nach Baden-Württemberg fahren?
Weil es hier eine grün-rote Landesregierung gibt, die den Verkehr ökologisch abwickeln will. Nein, Spaß beiseite. Wir brauchen für die gleiche Strecke statt drei nur zwei Lkw. Dies spart bis zu 25 Prozent Diesel und damit klimaschädliche Gase wie CO2. Allein in der Verbindung Bautzen in Sachsen nach Sindelfingen lässt sich so pro Tag ein Lkw einsparen – das entspricht 1300 gefahrenen Kilometern. Bisher mussten wir umständlich umladen, das entfällt nun.

Während Elflein im Minutentakt Interviews gibt, beginnt sein Mitfahrer mit dem Ausladen. Der Lastwagen parkt vor der Abladestelle 38 c. Die Planen werden zur Seite gezogen. Zum Vorschein kommen Gitterboxen mit schwarzen Plastikteilen. Es sind Radabdeckungen für die E-Klasse, die hier in Sindelfingen produziert wird. Ein Gabelstapler lädt die Boxen auf, dreht um und verschwindet in der Halle. Nach wenigen Minuten ist der Lkw entladen. Sollte er nach dem Feldversuch auch im Regelbetrieb weiterfahren dürfen, müsste Daimler zumindest die Stellplätze auf das notwendige Maß verlängern. „Bisher sind diese nur für normale Lastwagen ausgelegt“, sagt Ronny Spichtinger, Transportplaner bei Daimler. Nach der versuchsweisen Freigabe für die Langlaster sollen in den nächsten Wochen weitere Strecken hinzukommen. Zwei Lang-Lkw verkehren dann von Bautzen nach Rastatt, wo die Kompaktwagen gebaut werden. Dazu kommt ein weiteres Fahrzeug, das von Treuen in Sachsen ebenfalls nach Sindelfingen fährt. Die vier Langlaster ersetzen dann sechs normale Lkw. Daimler wäre auch gerne in die Sprinter-Werke Ludwigsfelde und Düsseldorf gefahren. In Nordrhein-Westfalen darf diese Version des XXL-Lasters jedoch nicht verkehren.

Herr Elflein, geht es für die Speditionen nicht auch schlicht darum, Personal einzusparen?
Wir suchen im Moment 50 Fahrer, das kann also nicht der Grund sein. Vielmehr schaffen wir hier auch einen interessanten Arbeitsplatz. Für den Lang-Lkw sind spezielle Qualifikationen und Schulungen notwendig. Damit machen wir den Beruf des Lkw-Fahrers ein Stück weit attraktiver. Auf die Straße setzen wir deshalb niemanden.
Müssen sich Autofahrer im Land künftig Sorgen um ihre Sicherheit machen?
Die Fahrzeuge sind mit allen derzeit verfügbaren Assistenzsystemen wie Abstandswarner, Spurhalte-, Notbrems-, oder Aufmerksamkeitsassistent ausgestattet. Außerdem dürfen sich nur speziell dafür trainierte Fahrer hinter das Steuer setzen. Da sich das Gewicht auf acht statt nur fünf Achsen verteilt, kommt das Fahrzeug im Zweifel schneller zum Stehen. Es besteht zudem ein Überholverbot für Lang-Lkw auf Autobahnen. Wir haben bei fünf Millionen gefahrenen Kilometern mit unseren Lang-Lkw keine größere Probleme gehabt.
Der Lang-Lkw wird den in einigen Jahren drohenden Verkehrskollaps nicht verhindern können.
Wir können gegen die steigende Anzahl von Lkw wenig tun, solange Alternativen wie die Bahn oder das Wasser nicht deutlich ausgebaut werden. Der Lang-Lkw ist aber einer von vielen Bausteinen, um den Verkehrsfluss zu optimieren. Eine weitere Möglichkeit der Entzerrung wäre beispielsweise, wenn Daimler sein Werk zwei Stunden früher öffnen würde und nicht alle Laster zur gleichen Zeit über das Stuttgarter Kreuz rollen müssten. Auch die Anbindung an die Telematik bietet Chancen, die Verkehrsströme besser zu lenken. Generell gilt: Wir brauchen in Europa Güteraustausch von West bis Ost, sonst ist unser Wohlstand gefährdet.

In einer der Logistikhallen haben sich die Transportplaner von Daimler versammelt, um den Journalisten Rede und Antwort zu stehen. Jeden Tag steuern 1800 Lkw das Werk in Sindelfingen an, von dieser Zahl will Daimler runter. „Wir versuchen, jeweils die optimalen Verkehrsträger einzusetzen“, sagt Ronny Spichtinger. So habe man den Anteil von Bahntransporten bei Fahrzeugauslieferungen von 30 auf 75 Prozent erhöht. Die Gefahr einer Rück-Verlagerung von der Schiene auf die Straße durch den Lang-Lkw sieht Spichtinger nicht.

Auf der Schiene werden schwere Teile und Massengüter bewegt, der Lang-Lkw ist jedoch nur für leichte und sperrige Fracht geeignet. „Dafür kommen nur zwischen drei und neun Prozent der Fahrten infrage“, so Spichtinger. Die Zahl reduziere sich noch, weil organisatorisch am Ende nicht alle Verbindungen wirklich mit überlangen Fahrzeugen bedient werden könnten. Zudem sei der Transportweg Schiene im Werk Sindelfingen ausgereizt, keine Kapazitäten mehr verfügbar.

Teil der Vereinbarung mit dem Verkehrsministerium Baden-Württemberg, das den Gigalinern grundsätzlich kritisch gegenübersteht, war eine wissenschaftliche Studie. Sie soll die Vor- und Nachteile von Lang-Lkw untersuchen. Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) befürchtet nach wie vor, dass die Schiene gegenüber der Straße durch den Einsatz der Riesenlaster ins Hintertreffen geraten könnte. Die Kosten für die Studie wollen sich Daimler und das Land teilen. „Im Moment laufen die europaweiten Ausschreibungen, im Herbst wollen wir starten“, sagt Daimler-Manager Dieter Schoch, im Transport zuständig für die Außenbeziehungen.

Unten auf dem Werkgelände steigt Rüdiger Elflein ins Führerhaus. Der orangefarbene Lang-Lkw setzt sich wieder in Bewegung. Wie ein gemütlicher Elefant setzt er seinen Weg zwischen den Lagerhallen hindurch fort. Bei der Leergutstelle holt er noch die Gitterboxen ab. Dann geht es durch Tor 5 zurück auf die Autobahn in Richtung Bautzen, wo die nächste Ladung wartet. Am nächsten Morgen gegen sieben Uhr wird er wieder in Sindelfingen sein.