Ministerpäsident Stefan Mappus, sein designierter Nachfolger Winfried Kretschmann und der SPD-Spitzenkandidat Nils Schmid (v. li.) Foto: dapd

Grünen-Vormann Kretschmann gewöhnt sich langsam an Rolle als Polit-Superstar. Video aus Landtag.

Stuttgart - Auch in der Stunde des Triumphs bleibt er sich treu: Winfried Kretschmann, überragender Wahlsieger und künftiger Ministerpräsident, jubelt eher verhalten. Sein künftiger Regierungspartner Nils Schmid genießt derweil die Aussicht auf ein neues rot-grünes Projekt.

Als das Amt endlich zu ihm kommt, ist es heiß und stickig. Hunderte Grünen-Anhänger drängen sich in einen Raum des Württembergischen Kunstvereins am Stuttgarter Schlossplatz, und von draußen knallt die Sonne herein. Die Menschen, die sich hier zusammengefunden haben, feiern Winfried Kretschmann, den wahrscheinlich ersten grünen Minsterpräsidenten. Es ist ein Amt, auf das Kretschmann nie hingearbeitet hat. "Das Amt kommt zum Mann", hatte er in den vergangenen Wahlkampf-Wochen immer wieder gepredigt. So wie es der Wahlkampf-Rhetorik der Grünen entsprach. Der Satz stammt von Erwin Teufel, dem ehemaligen Ministerpräsidenten. Auch ein Konservativer.

Sich zurückzunehmen, auf dem Boden zu bleiben, dem Machtrausch zu widerstehen - diese Tugenden hält Kretschmann aufrecht. Auch in der Stunde des größten Triumphs. Immerhin hat er mittlerweile die Gesten des Siegers einstudiert. Aber so wirken sie auch. Beide Arme nach oben gereckt, steht er vor seiner Partei und lässt sich bejubeln. "Kretsch, Kretsch, Kretsch!", rufen die Menschen und Kretschmann erträgt es. Noch im vergangenen November hatte das anders ausgesehen. Kretschmann reiste als Stargast zum Grünen-Bundesparteitag nach Freiburg. Als großer Hoffnungsträger. Nachdem er seine Rede gehalten hatte, klatschten die Delegierten frenetisch. Kretschmann stand da oben und winkte nur ab. "Ach, lasst doch gut sein", sollte das heißen.

Irgendwann ist es Kretschmann zu viel

Die Grünen-Anhänger im Württembergischen Kunstverein wollen es nicht gut sein lassen. Sie hören nicht mehr auf zu klatschen und zu jubeln, "Mappus weg" zu rufen, und "Oben Bleiben", die Kampfparole der Stuttgart-21-Gegner.

Irgendwann ist es Kretschmann dann doch zu viel. Er will jetzt zur Sache kommen. "Wir haben so etwas wie einen historischen Wahlsieg errungen", ruft er in die jubelnde Menge hinein. Bei der vergangenen Landtagswahl im Jahr 2006 waren die Grünen auf 11,7 Prozent gekommen, im Jahr 2001 waren es 7,7 Prozent gewesen, 1996 konnten sie ihr bisher bestes Ergebnis mit 12,1 Prozent einfahren. Und jetzt also rund 24 Prozent, dazu erstmals acht Direktmandate. Für die Partei ist es das bisher beste Ergebnis - bundesweit.

Doch auch diese beeindruckenden Fakten lassen Kretschmann nicht von seinem Kurs abkommen. Es ist der Kurs, den er bereits im Wahlkampf eingeschlagen hatte. "Wir werden in diesem Land einen Politikwechsel einläuten", ruft er. Und dann, als die "Oben-Bleiben"-Rufe immer lauter werden setzt er hinzu: "Nach den Polarisierungen den vergangenen Zeit führen wir die Menschen wieder zusammen." Wieder brandet Jubel auf, ein Mann zieht seinen Pullover aus, es wird immer heißer. Am Rande des Raums stehen zwei DJs, Hits wollen die beiden Männer später spielen. Wenn Kretschmann hinüberzieht zum Landtag, soll die Musik starten. Doch zuvor verabschiedet Niomba Loma, eine Stuttgarter Grünen-Gemeinderätin, den wahrscheinlich neuen Ministerpräsidenten. "Danke auch für die vielen Angriffe, die Du in letzter Zeit ertragen musstest", sagt sie und meint damit die Anfeindungen aus dem Lager des politischen Gegners. Doch auch innerhalb der Partei hatte Kretschmann in den vergangenen Jahren immer wieder mit Kritikern zu kämpfen. Zu wenig angriffslustig erschien ihnen der 62-Jährige. Doch bei dieser Landtagswahl, sei er - als Gegenpol zu Stefan Mappus - genau der richtige Kandidat für die Grünen gewesen. Darin sind sich nun alle einig. Auch Winfried Hermann, der Grünen-Bundestagsabgeordnete aus Tübingen. Hermann gehört zum Linken-Flügel der Partei, dass nun mit Kretschmann ein Realo-Grüner an die Macht kommen könnte, damit hat er kein Problem. "Er muss ja kein Parteichef werden, sondern sollte für alle Menschen da sein."

Hermann steht mit melancholischem Blick an einem der Stehtische. Auf die Frage: "Wie geht es Ihnen?", antwortet er: "Ach wissen Sie, ich habe schon so viele Wahlen erlebt, aber dass wir mal so weit kommen, das hätte ich nie gedacht."

Weit kommen, das wollten auch die Sozialdemokraten. Doch die SPD hat Stimmen eingebüßt - trotzdem bejubeln die Genossen das Wahlergebnis wie einen epochalen Sieg. "Schade, Mappus, alles ist vorbei", grölen dutzende Jusos im Salon 10 des feinen Stuttgarter Zeppelin-Hotels, wo die Wahlparty des Landesverbands steigt. Bei Bier und schwäbischem Spezialitätenbüffet tragen selbst alte Politik-Hasen schon lange vor den ersten TV-Prognosen demonstrative Siegeszuversicht zur Schau.

Als dann die ersten Zahlen über den Schirm flimmern, gibt es kein Halten mehr. Politikveteranen wie der frühere Umweltminister Harald B. Schäfer und die ehemalige Bundestagsabgeordnete Liesl Hartenstein liegen sich ebenso in den Armen wie die vielen jungen Wahlhelfer von Spitzenkandidat Nils Schmid. "Die Grünen sind vorn, das ärgert mich donderschlächtig", sagt der Landtagsabgeordnete Hans-Martin Haller mit gespieltem Groll, doch dann hebt er den Finger und lacht: "Wir haben zwar nur die Bronzemedaille, aber die ist vergoldet."

"Jetzt kann eine neue Politik greifen, wir haben doch fast alle unsere Wahlziele erreicht", sagt SPD-Vorständler Karl-Ulrich Templ. Dann schüttelt er mit dem Kopf, als könne er es noch gar nicht fassen: Die CDU im Land ist abgewählt.

"Das ich das noch erleben darf"

Um 18.20 Uhr kommt Nils Schmid an der Seite seiner Frau Tülay in den Saal - und er wird gefeiert, als sei er der neue Regierungschef. Er winkt, hebt den Daumen und ruft als erstes: "20997 Tage!" Das ist wie eine Chiffre geworden in seinen Wahlkampfauftritten, und die Eingeweihten wissen, was sie bedeutet: Mit dieser Zahl gibt er die Dauer der CDU-Regierung im Land an. "Wir haben den historischen Wechsel nach fast 58 Jahren CDU geschafft."

Jetzt sind erst einmal die Roten dran, und im Überschwang der Gefühle versteigt sich Schmid sogar zur Aussage, auch "darüber hinaus" werde man die Politik im Land prägen. "Wir werden nicht alles anders machen, aber vieles besser", schließt er seinen Kurzauftritt.

Dann geht er in einem Pulk von Kameraleuten, Fotografen und Anhänger zu Fuß vom Zeppelin zum nahen Landtag hinüber. Wer als Passant zufällig vorbeikommt, muss glauben, hier schreite der neue Ministerpräsident zu seiner ersten Amtshandlung.

Manche hoffen das sogar ernsthaft. Zeitweise trennen Rote und Grüne ja auch nur ein paar Zehntel. Doch je genauer die Hochrechnungen werden, desto mehr Spannung mischt sich in die Mienen der Genossen: Reicht es wirklich für Rot-Grün? Im Landtag, wo Schmid von Fernsehstudio zu Fernsehstudio eilt, sagt er immer wieder vorsichtig: "Wenn es dabei bleibt."

Auch Wolfgang Drexler, der seine Partei als Generalsekretär durch so manchen Sturm geführt hat, kehrt seinen Optimismus hervor. Er glaubt, dass es für Rot-Grün reicht. Vielleicht, weil der Wunsch einfach übermächtig geworden ist: "Ich werd' am Dienstag 65, dass ich das noch einmal erleben darf, habe ich nie gedacht." Die schwarz-gelbe Regierung sei weg, Rot-Grün komme ans Ruder - und dann noch ein Erfolg, der ihn mit ganz besonderer Genugtuung erfüllt: Die Linke, dieses Fleisch vom Fleische der SPD, kommt im Südwesten auf keinen grünen Zweig. Wenn das kein Grund zum Feiern ist.

Trotzdem hat er auch ein "tränendes Auge", wenn er das Ergebnis der SPD betrachtet: 23,1 Prozent, das sind zwei Prozentpunkte weniger als 2006. Und so wenig wie noch nie! Fraktionschef Claus Schmiedel spricht von einem Wermutstropfen, schließlich wollte man zweitstärkste Partei im Land bleiben. Und auch der ehemalige Chef der Jungsozialisten, Hendrik Bednarz, sagt: "Das ist natürlich verbesserungsfähig." Gewerkschafter Udo Luz erinnert an die Umfragewerte der SPD vom Herbst, als sie unter 20 Prozent lagen. Daran gemessen, habe Nils Schmid einen Superwahlkampf gemacht. "Aus Sicht der Arbeitnehmer", so Luz, "ist das doch ein Riesengewinn." Nein, die gute Laune ist den Genossen an diesem Abend nicht zu verderben. Manche werden sogar lyrisch. Die stellvertretende SPD-Landesvorsitzende Leni Breymaier schwärmt: "Ich habe ein Gefühl wie im Frühling, wenn man die Heizung abstellt und die Fenster aufmacht und frische Luft reinlässt."