Noch sagen Umfragen der Partei „Die Linke“ im Land Ergebnisse nur zwischen zweieinhalb und drei Prozent voraus. Ihr Spitzenkandidat Bernd Riexinger arbeitet an der Basis hart daran, dass sich das ändert. „Wenn ihr Millionäre seid“ sagt er, „ist es falsch, die Linke zu wählen. Alle anderen sollten es tun.“

Stuttgart - „Es ist ein bissel laut hier, gell?“ Der große Mann am Rednerpult biegt die Mikrofone vor sich ein wenig zurück. „Ist das gut so?“ Ein Lächeln schleicht sich nicht nur in das Gesicht der älteren Dame, die sich zuvor bei den basswummernden musikalischen Einlagen der Gruppe JAM beim Politischen Aschermittwoch im Alten Feuerwehrhaus Stuttgart-Heslach beharrlich die Ohren zugehalten hat. Dabei hätte man das „I Shot The Sheriff“ ja durchaus als Teil der Veranstaltung verstehen und programmatisch deuten können.

Es gehört zu den Qualitäten Bernd Riexingers, des Parteivorsitzenden der Linken und Spitzenkandidaten seiner Partei in Baden-Württemberg, dass er Stimmungen spürt und auf sie eingeht. Wenn ihm jetzt einer sagte: Hey Bernd, du, es zieht hier ein bisschen – dann ginge er, der Boss, die Galionsfigur der Linken im Ländle, privat Besitzer eines Ford Fiesta und passionierter Hobbykoch, gewiss rasch selbst zur Tür und machte sie zu.

So macht das einer, der in einer Arbeiterfamilie in einem Dorf bei Leonberg aufwuchs und der, als die Familie ein (verfeindetes) Dorf weiterzog, dort erst mal heftig Prügel bezog. So einer hätte nicht unbedingt den Wehrdienst verweigern, so einer hätte nicht Pazifist werden müssen und sich immer wieder von Journalistenfragen auf die logischen Inkonsequenzen einer pazifistischen Grundhaltung hinweisen lassenmüssen.

Plädoyer für Frieden und soziale Gerechtigkeit

Irgendwie muss Riexinger natürlich an seine Posten gekommen sein, muss also Kante gezeigt haben. Das spürt man spätestens bei seiner Rede, die eine Abrechnung mit der grün-roten Landesregierung ist, ein flammendes Plädoyer für Frieden und soziale Gerechtigkeit, bei dem sich Riexinger zunehmend heißredet und sich ebenso frei wie klug und wirkungsvoll von einem Exkurs zum nächsten hangelt.

Ansonsten aber ist er ein Sympathieträger. Ein Ruhiger, Netter, der aus der zweiten Reihe nach vorne kam und eher auf den zweiten Blick interessant ist. Typ: Fels in der Brandung. In der Oper wäre er nicht Tenor, sondern Bariton. Also keiner, der eitel von der Liebe singt und dabei eigentlich immer nur sich selber meint, sondern einer, der Strippen zieht, der (oft im Hintergrund) Personen bewegt und Handlungen in Gang bringt.

Riexinger ist auch einer, der wie geschaffen scheint, um Unterschiedliches zusammenzubringen, also auch jene Gegensätze zu befrieden, die seit jeher das Profil der Linken ausmachen. Die Stärke dieser Partei – der Pluralismus etlicher außerparlamentarischer Strömungen – ist manchmal halt auch ihre Schwäche, weil sie notwendig zu Uneinigkeiten und Streitereien führt, und da hilft einer wie Riexinger, der unprätentiös und pragmatisch einfach selbst Hand anlegt, wenn es irgendwo mal zu laut geworden ist.

Riexinger wirft Grün-Rot in sozialen Themen Versagen vor

An diesem Abend in Stuttgart-Heslach, umweht vom Geruch nach Bier, Schweiß, Brezeln wie vom Stallgeruch linker Basisarbeit, die der 60-Jährige aus seiner langjährigen Arbeit erst als Betriebsrat, später als Stuttgarter Verdi-Gewerkschaftssekretär kennt, ist er allerdings vor allem das Sprachrohr von knapp 200 Parteimitgliedern oder parteinahen Besuchern, die an langen Bänken sitzen und fast immer dieselbe (oder zumindest eine ähnliche) Meinung haben wie der Kandidat, der „mit einem guten Gefühl“ den Einzug seiner Partei ins Landesparlament vorantreibt.

Schließlich, sagt er, habe die amtierende Landesregierung bei allen wesentlichen sozialen und ökologischen Themen versagt. Nicht nur beim Großprojekt Stuttgart 21 habe man die Waffen gestreckt, sondern auch beim Umgang mit dem Flüchtlingsthema, Pegida, AfD, Steuer- und Tarifpolitik, dem Einsatz der Bundeswehr in Syrien, der Zunahme von Zeitarbeit und prekären Beschäftigungsverhältnissen. Fast jeder vierte Arbeitsplatz im Land falle mittlerweile unter diese Kategorie.

In den sozialen Brennpunkten, bei den sogenannten kleinen Leuten: Dort ist, auch wenn die Linke zuletzt bei jungen Intellektuellen zugelegt hat, die Hauptklientel der Partei. Dass von dieser Klientel kaum einer (mehr) wählen geht, ist vielleicht ihr größtes Problem. Das zweitgrößte ist, dass die Mehrheit der Menschen die Position der Linken gut findet, nicht aber die Partei selbst. „Leute“, ruft Riexinger deshalb in den Saal, „klingelt an den Haustüren, geht hin, sprecht mit den Leuten!“ Und: „Keiner geht heute zur Tür raus, ohne Material mitzunehmen!“

Mit vielen Zahlen wartet der gelernte Bankkaufmann auf. Und ein paar flotte Sprüche gibt er den Gästen des Abends auch noch mit auf den Weg. „Wir haben“, sagt er zum Beispiel, „sogar ein Integrationsprogramm für Millionäre: Sie sollen in die Gesellschaft integriert werden.“ Die CSU mache „im doppelten Sinne das Geschäft der Rechten in Deutschland“, sei „der AfD näher, als sie denkt“; Sigmar Gabriel habe „die Standfestigkeit einer Schwingtür“; es sei „ein Skandal, dass Menschen, denen wir unser Geld anvertrauen, mehr verdienen als die, denen wir Kinder, Kranke und Senioren anvertrauen“; „Baden-Württemberg steht bei der sozialen Integration an letzter Stelle aller Bundesländer“; „Wohnen ist ein Recht“. Und insgesamt: „Wir haben ein Konzept, es ist nur nicht erwünscht in diesem Land.“

Dauerruhig und dauerfreundlich geht er auf die Menschen zu

In der Fußgängerzone von Bad Cannstatt zeigt man sich offen für die Linkspartei. Neben dem Informationsstand der Linken spielt ein Musiker mit Clownsmaske Saxofon: ein irgendwie surreales Setting, das problemlos als Rahmen für eine melancholische Beckett-Inszenierung taugen würde. Hier wird Bernd Riexinger („Ah, der Chef selber!“) viele Handzettel und Broschüren los.

Ein Passant zeigt ihm allerdings einen Stinkefinger („Holt ihr nur alle Terroristen nach Deutschland!“), und ein anderer („Ihr habt die DDR runtergewirtschaftet!“) verkündet, ihm „einen Flug nach Nordkorea“ bezahlen zu wollen, „aber nur einfach“. Ein junger Mann mit Kinderwagen sagt, dass er weiterhin Grüne wählen wird, wie immer und „trotz alldem“, und im Übrigen sei er „eher wirtschaftsliberal eingestellt“. „Na dann“, entgegnet Riexinger (obwohl er, wie er später zugibt, „dieses Argument mit dem kleinsten Übel nicht mehr hören kann“), „sind Sie bei den Grünen ja gut aufgehoben.“

Man trennt sich. Unter den Vorübergehenden sind alte Bekannte. Ein Parteimitglied lässt sich gemeinsam mit dem Spitzenkandidaten fotografieren. Sehr bewusst geht der Kandidat, dauerruhig und dauerfreundlich, auf Menschen mit Migrationshintergrund zu: Sie sind eine große Zielgruppe seiner Partei. Ein Kurde bringt seinen Freund mit, der Riexinger „lange schon kennenlernen wollte“, und man debattiert lange über die Kurdenpolitik der Türkei. Eine Frau will über die Erblast der SED bei der Linken reden. Das wollen andere auch, das ist eine schwere Hypothek der Partei. Riexinger beschwichtigt, lenkt ein, sagt, „Man kann auch mal Linke wählen“ und dass er „das jetzt mitnehme“.

Auch am Marienplatz, an der Rolltreppe zur Stadtbahn, ist Straßenwahlkampf anstrengende Basisarbeit. Viele gehen vorbei. Eine fast zahnlose Frau bleibt stehen. Nicht wegen der Forderungen Riexingers nach Chancengleichheit bei der Bildung, angemessener Bezahlung in typischen Frauenberufen und bezahlbarem Wohnraum, die dieser gerade mit einem jungen Mann diskutiert.

Nein, beide – die Frau und der Spitzenkandidat – erkennen sich wieder. Neulich haben sie doch im Bus nebeneinander gesessen, oder? Na klar! Da ist er wieder, der nette Mann von nebenan. Der würde einem, wenn er nicht immer die halbe Woche in Berlin wäre, gewiss ab und zu helfen, einen Dübel in die Wand zu jagen oder eine Dichtung zu erneuern. Und sicher auch ein Auge zudrücken, wenn es in der Wohnung neben ihm mal ein bissel laut ist.