Die Diesel-Klagewelle bringt die Gerichte an ihre Belastungsgrenzen. (Symbolbild) Foto: imago images/blickwinkel/S. Ziese

Wegen der Diesel-Affäre türmen sich allein am Landgericht Stuttgart gegen Daimler Forderungen in Höhe von 1,3 Milliarden Euro.

Stuttgart - Der Dieselskandal in der Autobranche und ausstehende höchstrichterliche Entscheidungen in vielen Fällen bringen auch baden-württembergische Gerichte in Not. Massenklagen gegen mehrere Autokonzerne im Zusammenhang mit der Dieselaffäre sorgen vor allem am Landgericht Stuttgart für explodierende Verfahrensbestände. Im ersten Halbjahr kletterte die Zahl der neu eingegangenen erstinstanzlichen Zivilverfahren hier auf fast 9500 - allein im Vorjahresvergleich ist das ein Plus von 43 Prozent, wie das Gericht am Freitag in Stuttgart mitteilte. Hintergrund sei eine „regelrechte Flut an Diesel- und Kapitalanlegerklagen“, sagte Gerichtspräsident Andreas Singer und warnte angesichts wachsender Verfahrensbestände vor immer längeren Laufzeiten einzelner Prozesse: „Unsere Ressourcen sind auf diese Massenklagen nicht ausgerichtet.“

Konkret sind allein am Landgericht der Landeshauptstadt innerhalb der vergangenen Jahre an Dieselklagen inzwischen rund 4500 gegen VW und mehr als 11 000 gegen Daimler eingegangen. Hinzu kommen Hunderte Kapitalanlegerklagen gegen diese beiden Unternehmen sowie gegen die in Stuttgart sitzende VW-Dachgesellschaft Porsche SE und gegen den Stuttgarter Wirtschaftsprüfer EY. „Die Klagewellen bauen sich damit seit vier Jahren immer weiter auf“, sagte Singer.

Zahl der Strafverfahren steigt weniger stark

Im Vergleich zu Zeiten vor dem Dieselskandal registriere man ein Plus von 60 Prozent bei Zivilklagen. Das sorgt für einen Prozessstau: Zum 30. Juni seien mehr als 13 600 Zivilverfahren offen gewesen, vor dem Beginn der Diesel-Klagewelle Ende 2017 seien es nur rund 6600 gewesen. Im Schatten der Zivilverfahren nimmt übrigens auch die Zahl der Strafverfahren am Landgericht zu – aber auf einem niedrigeren Niveau.

Während bei den Dieselklagen meist Schadenersatzansprüche wegen mutmaßlich vorsätzlichen oder sittenwidrigen Handelns einzelner Konzerne geltend gemacht werden, nehmen Kläger bei Anlegerklagen die Börsenentwicklung in den Blick. Sie werfen den Unternehmen meist vor, sie zu spät über die finanziellen Folgen einzelner Affären informiert zu haben. Bei Daimler, VW und der Porsche SE geht es hier in der Regel um die Zeiträume, als der Dieselskandal bekannt wurde. Allein die am Landgericht angemeldeten Forderungen gegen Daimler belaufen sich in diesem Zusammenhang auf rund 1,3 Milliarden Euro. Die EY-Klagen stehen hingegen im Zusammenhang mit dem Skandal um den mittlerweile insolventen Zahlungsabwickler Wirecard, der EY über viele Jahre als Wirtschaftsprüfer eingesetzt hatte.

Justizministerium möchte Vorabentscheidungen

Auch das baden-württembergische Justizministerium sieht die Zunahme der Massenklagen mit Sorge. Ein tragfähiger Ansatz zur Koordinierung von Massenverfahren könnte die Einführung eines Vorabentscheidungsverfahrens sein, für die sich auch die Justizministerkonferenz ausgesprochen habe, sagte ein Sprecher des Hauses von Ministerin Marion Gentges (CDU). Ziel sei es, mit der Einführung eines Vorlageverfahrens zum Bundesgerichtshof oder einer vergleichbaren Lösung die Instanzgerichte insbesondere in Massenverfahren zu entlasten. Es solle also eine vergleichsweise zügige höchstrichterliche Vorabentscheidung über grundsätzliche Rechtsfragen mit Bedeutung für eine Vielzahl von Einzelfällen herbeigeführt werden. Eine Arbeitsgruppe solle dies nun prüfen.

Dass in vielen Fällen höchstrichterliche Entscheidungen fehlen, ist vor allem bei der juristischen Bewertung Tausender Dieselklagen ein ungelöstes Problem. Nur im Fall von Volkswagen gibt es für einen speziellen Motortypen – den Skandalmotor EA189 – Urteile des Bundesgerichtshofs, wonach der Wolfsburger Autobauer seine mit diesem Antrieb ausgestatteten Kunden systematisch getäuscht hat. Bei anderen VW-Motoren ist die Rechtslage nicht so eindeutig und wird von den Gerichten oft aufwendig im Einzelfall geprüft und bewertet.

Musterfeststellungsklage bringt kaum Entlastung

Bei Daimler gibt es im Grundsatz bisher keine höchstrichterliche Aussage dazu, ob der Autobauer vorsätzlich oder sittenwidrig gehandelt hat. So gab es zwar an Land- und Oberlandesgerichten schon eine ganze Reihe einzelner Schadenersatzklagen - allerdings mit unterschiedlichem Ausgang. Inzwischen haben Verbraucherschützer eine Musterfeststellungsklage gegen Daimler auf den Weg gebracht, über die geklärt werden soll, ob der Autobauer unzulässige Abschalteinrichtungen in Autos eingebaut hat. Allerdings geht es auch hier nur um spezielle Modelle, die in Summe nicht mal zehn Prozent der vor dem Landgericht Stuttgart anhängigen Daimler-Klagen abdeckt.

Das Gericht sieht sich auch im bundesweiten Vergleich besonders stark von der Klageflut erwischt. Man sei von Daimler-Klagen so betroffen wie bundesweit kein anderes Gericht, weil der Konzern in Stuttgart sitzt, heißt es. Obendrein reichen aber auch Tausende VW-Kunden ihre Klagen in Stuttgart ein, obwohl das Unternehmen aus Wolfsburg stammt.

Die Kunden können zumindest zum Teil so vorgehen, indem sie in ihren Klagen auf einen „besonderen Gerichtsstand der unerlaubten Handlung“ verweisen – beispielsweise wenn der Kaufvertrag über das Fahrzeug in Stuttgart geschlossen wurde. Dem Vernehmen nach liegt dieses Ausweichen bei der Auswahl des Gerichts oft auch schlicht daran, dass in Stuttgart Diesel-Fahrverbote gelten - und hiesige Kunden aus Verärgerung häufiger als anderswo juristisch gegen VW vorgehen.