Gemeindetagspräsident Roger Kehel Foto: dpa

Gemeindetagspräsident Roger Kehle fordert entschlossene Schritte von der Politik, um dem ländlichen Raum zu helfen.

Stuttgart - Wie bedroht ist die Zukunft von kleinen Gemeinden auf dem Land? Und wie kann man die Landflucht stoppen? Gemeindetagspräsident Roger Kehle sieht Aufgaben sowohl bei den Kommunen als auch bei der Politik.

Herr Kehle, viele Gemeinden auf dem Land tun sich immer schwerer, Ärzte, Geschäfte oder Schulen zu halten. Eine Studie sagt einen deutlichen Einwohnerrückgang voraus. Wie dramatisch ist die Lage in Baden-Württemberg?
Wir sind weit davon entfernt, hier Verelendungstendenzen zu haben. Man muss das differenziert betrachten. Es hat auch schon Prognosen gegeben, die nicht eingetroffen sind. Derzeit drängen die Menschen tatsächlich in die Städte. Dadurch wird dort allerdings der Wohnraum knapp und teuer. Daran wird sich auch durch egal welche gesetzlichen Regelungen nichts ändern. Deshalb wird es irgendwann auch wieder die Gegenbewegung hinaus aufs Land geben. Deswegen ist eine gewisse Gelassenheit bei allen Entscheidungen wichtig.
Alles in Butter also, kein Grund zur Sorge?
Nein. Wir müssen trotzdem überlegen, was zu tun ist. Und da muss man sich fragen, warum wir in Baden-Württemberg stärker sind als in vielen anderen Bundesländern. In Nordrhein-Westfalen zum Beispiel hat man viele Kommunen zusammengelegt. Und was ist passiert? Sie sind fast samt und sonders pleite. Deshalb müssen wir zunächst die bisherige Struktur beibehalten. Eine weitere verwaltungstechnische Zusammenlegung von Gemeinden wäre keine Lösung. Wir haben einen sehr gesunden Wettbewerb der Kommunen untereinander. Die vor Ort zuständigen Bürgermeister und Gemeinderäte müssen sich dabei beweisen. Das ist ein Schlüssel des Erfolgs.
Dennoch tun sich viele kleine Orte schwer. Was können sie tun?
Sie müssen interkommunal zusammenarbeiten. Man muss bei jedem hinschauen, wo seine Stärken und Schwächen sind. Wie sieht es mit dem Verkehr aus, wie mit weiterführenden Schulen? Dann sieht man vielleicht, dass man in vier Gemeinden keine vier Freibäder mehr braucht, sondern nur noch zwei. In der Verwaltung kann man dort sparen, wo es der Bürger nicht unmittelbar bemerkt. Man muss überlegen, was jeder Ort vorhalten kann. Die Leute sollen beispielsweise überall heiraten können, man braucht aber nicht in jeder Kommune ein eigenes Standesamtswesen.
Ist das schon allen betroffenen Orten im Land klar?
Eine große Stärke in Baden-Württemberg ist, dass viele Bürgermeister vorausdenken und kreativ dabei sind, Lösungen zu finden. Dieses Nachdenken passiert im ganzen Land – und es endet nicht an den jeweiligen Kreisgrenzen. Es gibt bereits viele Initiativen und Zusammenschlüsse bei diversen Themen. Das macht mich zuversichtlich.
Wo im Land ist die Lage am kritischsten?
Grundsätzlich ist die Lage nicht dramatisch. Aber es gibt entsprechende Entwicklungen besonders in vier Regionen. Dazu zählen Teile des Hochschwarzwalds, der Schwäbischen Alb, des Main-Tauber-Kreises und des Neckar-Odenwald-Kreises.
Welche Probleme spielen für die Gemeinden die größte Rolle?
Zum Beispiel der Ausbau des Breitband-Internets. Breitband ist die Autobahn des 21. Jahrhunderts. Das hätte noch vor ein paar Jahren aber kaum einer geahnt. ImÜbrigen sind viele Probleme, die jetzt im ländlichen Raum auftauchen, keine, die nur dort von Belang sind. Unser Verband warbeispielsweise der erste bundesweit, der die beginnende ärztliche Nichtversorgungangesprochen hat. Das ist eine gesell-schaftliche Entwicklung, die auch die Städte trifft. Auch Mobilitätsfragen stellen sich überall.
Was kann die Politik beitragen?
Wir brauchen eine Flächenkomponente im Finanzausgleich. Wenn Städte ihre hohe Einwohnerzahl veredeln können, muss es auch mehr Geld für einen nachgewiesenen Mehraufwand auf dem Land geben. Zum Beispiel, weil dort für viel wenigerMenschen dieselbe Menge an Leitungenbetrieben werden muss, die Geld kosten.
Also schlicht mehr Geld?
Nein. Wir kämpfen seit Jahren dafür, dass eine regionale Schulplanung auf den Weg gebracht wird. Nur so werden wir unsere Bildungsstrukturen halten können. Oder ein anderes Beispiel: Das Land hat das Sagen bei der EnBW. Die muss sich ohnehin neue Geschäftsfelder erschließen. Sie könnte beim Ausbau des Breitbands tätig werden oder Vorreiter bei der Elektromobilität sein. Die wird von den Leuten erst in großem Stil genutzt werden, wenn überall die nötigen Strukturen dafür vorhanden sind.
Tut die Landesregierung genug?
Wir brauchen ein neues Kompetenzzentrum für Infrastruktur. Dafür muss man kein zusätzliches Ministerium schaffen. Aber man muss alle Aufgaben, die bisher auf verschiedene Ministerien verteilt sind, bündeln. Dafür muss man sich fragen: Was gehört in Zukunft zur Infrastruktur? Das können alle Verkehrsträger, Breitbandanbindung und ganz andere Dinge sein. Wir brauchen mehr Zukunftsdenken und müssen dabei so flexibel sein, auch auf kurzfristige Entwicklungen reagieren zu können.
Wie sieht in Baden-Württemberg der ländliche Raum von morgen aus?
Es wird nicht alles so bleiben können, wie es ist. Aber alles, was an Infrastruktur wichtig ist, muss für jeden erreichbar bleiben. Die Leute werden nur dorthin gehen, wo ihre Ansprüche erfüllt werden. Positiv ist, dass die guten Unternehmen, die Weltmarktführer, bei uns nicht nur in den Großstädten sitzen. Die Arbeitslosenquoten auf dem Land sind niedrig. Es braucht dort aber auch Kultur- und Bildungseinrichtungen. Dafür benötigen wir weiterhin selbstständige, gut funktionierende Gemeinden.