Erwin Gayer am Nussdorfer Wasserturm Foto: factum/Granville

In den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges fiel Nussdorf in Schutt und Asche – auch alle ortshistorischen Dokumente. Erwin Gayer hat es trotzdem geschafft, ein Buch über ein für ein kleines Dorf geradezu revolutionäres Projekt zu schreiben: die beispielhafte Wasserversorgung.

Eberdingen-Nussdorf - Als sein Elternhaus am 7. April 1945 in Flammen aufging, schaute der dreijährige Erwin Gayer mit seinen Schwestern von einer Nussdorfer Streuobstwiese aus zu. „Inmitten von Bettzeug und andere Dingen, die wir aus dem Haus gerettet hatten“, erinnert er sich. Der Ostwind blies die Funken bis zu den Kindern. Noch Jahre nach dem Krieg schliefen die Gayers in Decken mit Brandlöchern.

Nicht nur das Haus der Familie Gayer wurde im April 1945zerstört – in jenen verheerenden Tagen, als das Dorf zwischen die Mühlen der eingerückten SS und der Wehrmacht, die es in fatalem Fanatismus verteidigen wollten, und herannahenden Franzosen geriet. 20 Menschen starben, drei Viertel des Dorfes versanken in Schutt und Asche. Auch das Rathaus. Und mit ihm sämtliche Urkunden, Akten und Grundbücher, in denen die Geschichte des kleinen Ortes dokumentiert war.

Das Vieh rümpfte an den „Pfützen“ die Nase

Wer angesichts einer solch trostlosen Quellenlage versuchen will, Sternstunden der Ortsgeschichte dem Vergessen zu entreißen, muss aus besonderem Holz geschnitzt sein. Erwin Gayer, Elektrotechniker im Ruhestand und von Kindesbeinen an von Geschichte fasziniert, ist es – zum Glück. Sein 200 Seiten starkes Buch beleuchtet ein über das lokalhistorische Interesse hinausreichendes, existenzielles Thema: die Frage, wie der Mensch zu dem lebensnotwendigen Wasser kommt.

Bis Mitte des 19. Jahrhunderts mussten sich die Nussdorfer mit dem Gefäß begnügen, das Gayers Buch „Eine Gölte Wasser“ den Namen gibt – ein hölzerner oder kupferner Schöpfeimer, der zwischen 15 und 18 Liter fasste. Das rund 400 Meter hoch gelegene Dorf verfügte nur über fünf Brunnenschächte, die einigermaßen akzeptables Wasser lieferten. In trockenen Zeiten wurde streng rationiert. Jeder Haushalt, unabhängig von seiner Bewohnerzahl, erhielt alle zwei Tage seine Gölte voll Wasser. Frauen schleppten zusätzliches Wasser teils kilometerweit aus dem Tal herauf. Wer ein Fuhrwerk, ein Wasserfass und Zugtiere sein Eigen nannte, schöpfte Bach- oder Quellwasser in Nachbarorten. Für das Vieh gab es sogenannte Pfützen: Als Trinkwasser waren diese Regenwasserteiche aber so miserabel, dass auswärts gekauftes Vieh sich weigerte, es zu saufen.

Ein kleines Dorf mit großen Plänen

Doch im Jahr 1865 kratzten die Nussdorfer ihr Geld zusammen, nahmen Kredite auf und brachten mit dem Stuttgarter Ingenieur Karl Ehmann ein für ein kleines Dorf in Württemberg bis dato beispielloses Projekt zuwege: eine eigene Wasserversorgung, die am 25. Juli 1867 eingeweiht wurde. Von diesem Zeitpunkt an floss das kostbare Nass von einer Quelle in Eberdingen über natürliches Gefälle in eine Pumpstation. Eine Dampfmaschine trieb die Pumpe an, die das Wasser via Druckrohr rund 120 Meter zu einem Hochbehälter in Nussdorf beförderte. Über ein Rohrsystem ging es weiter zu sieben Ventilbrunnen, aus denen die Bürger schöpften.

Von Schriftstücken und Sauklauen

Jahrelang recherchierte Erwin Gayer für sein Buch, das den Bogen der Nussdorfer Wasserversorgung von den Zeiten der römischen Gutshöfe bis in die Gegenwart spannt. „Zum Glück gibt es im Ludwigsburger Staatsarchiv noch den Schriftverkehr zwischen der Gemeinde Nussdorf und dem Königlichen Oberamt Vaihingen“, meint der 77-Jährige. Gutachten, Kostenaufstellungen, Schreiben vom Bauamt für das öffentliche Wasserversorgungswesen: angesichts der sonstigen Archivlage des Ortes wahre Schätze für den ambitionierten Amateurforscher. Er entzifferte, transkribierte, kopierte, verzweifelte fast an mancher Sauklaue von anno dazumal. Auch alte Zeitungsberichte halfen, trotz Archivlücken ein detailreiches, mitunter amüsant zu lesendes Werk zu schaffen.

Eine Hommage an Karl Ehmann

Das Buch ist auch als Hommage an Karl Ehmann gedacht, der heute weitgehend vergessen ist – eine Schande, wie Erwin Gayer findet. Denn Ehmann habe sich um Nussdorf und die vielen Dörfer auf der Schwäbischen Alb, für die er nach Nussdorfer Vorbild später die Alb-Wasserversorgung schuf, unendlich mehr verdient gemacht als viele Persönlichkeiten, nach denen heute Straßen und Schulen benannt seien. Der Historiker Gerhard Raff schrieb einmal: „Kaum ein anderer Wohltäter der Menschheit ist so schnell vergessen worden wie Karl Ehmann, obwohl doch seine Wohltat täglich in jedermanns Munde ist.“

Die Antennen sind immer auf Empfang

Allein um des genialen Ingenieurs Willen freut es Erwin Gayer, dass er für „Eine Gölte Wasser“ jetzt den Landespreis für Heimatforschung bekommen hat. „Ich hab’s einfach versucht und mich beworben, war aber dann doch total überrascht“, sagt er bescheiden. Viel Aufhebens um die Auszeichnung macht er nicht. Selbst wenn sie ihm gut tut: Zusätzlichen Ansporns bedarf er gewiss nicht. Seine Antennen in Sachen Ortshistorie sind sowieso stets auf Empfang gestellt.

Ob er durch die Fluren streift und Überbleibsel aus der Römerzeit aufspürt – Dachziegel, auch mal einen Grenzstein –, ob er Besucher durch die von ihm und seinem Mitstreiter Friedrich Schurr konzipierte Ausstellung zu Kriegszerstörung und Wiederaufbau führt, ob er historische Nussdorf-Fotografien sammelt oder für die Schriftenreihe „Nussblätter“ forscht und publiziert: der Stoff geht ihm nicht aus. Die Puste auch nicht.