Daimler-Chef Ola Källenius schwört den Konzern auf harte Zeiten ein. Foto: AFP/THOMAS KIENZLE

Die Gewinne brechen ein, die Kosten steigen: Daimler-Chef Ola Källenius muss den Spagat zwischen der finanziellen Gesundung und hohen Investitionen wagen.

Stuttgart - Anfang Januar, auf der Elektronikmesse CES in Las Vegas, war Ola Källenius ganz in seinem Element: Zusammen mit Hollywoods Regie-Legende James Cameron stellte der 50-Jährige das Automodell AVTR vor: Ein Elektrofahrzeug, das so nachhaltig ist wie ein Auto nur sein kann. Die Sitzbezüge sind nicht aus Leder, sondern aus veganem Dinamica, das entlang der gesamten Wertschöpfungskette nachhaltig hergestellt wurde. Das verwendete Rattan-Holz wächst schnell nach, und selbst die Batterie besteht aus organischen Materialien, die zu 100 Prozent wiederverwertbar sind. „In diesem Auto kann man die Zukunft spüren“, lobte der Regisseur den Daimler-Chef.

Ein nachhaltiges, CO2-freies Auto – das könnte Källenius gut gebrauchen. Und zwar sofort. Doch bei dem Fahrzeug, das er präsentierte, handelte es sich lediglich um eine Studie, die so wohl nie gebaut wurde und die zeigen soll, wie sich Daimler die ferne Zukunft des Automobils vorstellt: Eine Zukunft, in der das Auto eins ist mit der Natur und der Mensch eins mit dem Auto.

Steiler Landeanflug beim E-Auto

Für den 50-jährigen Källenius dürfte die Reise nach Las Vegas ein angenehmer Ausbruch aus dem Alltag gewesen sein, dem er sich seit seinem Amtsantritt vor einem Dreivierteljahr zu stellen hat. In diesem sind die kühnen Visionen durch eine Vielzahl drängender Problemen überlagert, die der schnellstmöglichen Lösung bedürfen. So muss Daimler schon Ende dieses Jahres eine Neuwagenflotte auf den Markt bringen, die – von wenigen Ausnahmen abgesehen – nur noch knapp über 100 Gramm Kohlendioxid pro Kilometer in die Luft pustet. Die aktuelle Neuwagenflotte liegt bei 137 Gramm. Das lässt sich auch mit den saubersten Autos mit Verbrennungsmotor nicht schaffen. Schon gar nicht, wenn der vergleichsweise klimaschonende Diesel bei der Kundschaft in Misskredit gerät und vor allem in schweren Geländewagen eingebaut wird.

Die einzige Möglichkeit besteht darin, möglichst schnell möglichst viele Elektrofahrzeuge auf den Markt zu bringen. Doch bisher ist es selbst für die zahlungskräftige Daimler-Kundschaft schwer, bei Mercedes einen solchen Wagen zu erstehen. Das bisher einzige E-Auto aus dem Hause Mercedes, der Geländewagen EQC, ist wegen Lieferproblemen kaum zu bekommen. Andere Modelle sind über das Stadium der Ankündigung bisher nicht hinausgekommen. Die angekündigte E-Offensive ist in Vorbereitung, doch auf den Straßen ist davon nichts zu sehen. Und die Zeit läuft.

Auch die Folgen des Dieselskandals zehren an den Nerven. Bereits zum dritten Mal in seiner erst neunmonatigen Amtszeit musste Källenius seine Gewinnschätzungen zurücknehmen, was die Börsianer gar nicht gern sehen. Jedes Mal gehörten zusätzliche Dieselkosten in Milliardenhöhe zu den zentralen Gründen. Das Geld, das man wegen der Prozesskosten gedanklich reservieren muss, fehlt wiederum für die Technologien.

Der Chef beschönigt nichts

Källenius ist keiner, der Probleme beschönigt. Der hochgewachsene Schwede hat einen nüchternen Blick auf die Dinge, und so spricht er auch. „Wir sind damit nicht zufrieden“, „das wird unserem Unternehmen nicht gerecht“, „das kann so nicht bleiben und wird so nicht bleiben“ – solche Aussagen gehören zu den Schlüsselsätzen, mit denen er zuerst vor internationalen Investoren und dann vor Medienvertretern aus aller Welt seine Bilanz und seine Vorhaben präsentiert. Seine Aufgabe ist dabei weitaus schwieriger als die von BMW-Chef Oliver Zipse. Denn die Münchner haben zwar für E-Autos wie den i3 reichlich Lehrgeld bezahlt – doch dafür haben sie heute gegenüber Daimler einen großen Vorsprung im Rennen um eine Senkung der CO2-Werte: In Deutschland haben die Münchener im vergangenen Jahr über zehnmal so viele reine E-Autos verkauft wie Daimler. Das muss die stolzen Stuttgarter, die BMW einst nach einer jahrelangen Aufholjagd überholt hatten, besonders schmerzen.

Der Konzern ist nicht erst seit dem eingängigen Slogan „Das Beste oder nichts“ davon überzeugt, fast alles besser zu können als andere. Als 1998 ein schwedischer Journalist einen Kompaktwagen der A-Klasse mit einem Elchtest zum Kippen brachte, verspottete manch ein Daimler-Manager hinter vorgehaltener Hand den Autojournalisten, der erst mal fahren lernen müsse. Der Gedanke, dass allen Ernstes etwas mit dem Auto nicht stimmen könnte, kam den stolzen Daimler-Leuten erst in den Sinn, als man selbst verschiedene Autos getestet und festgestellt hatte, dass er im Recht war. Auch als US-Behörden bemerkten, dass VW beim Diesel betrogen hatte, war Daimler schnell mit der Botschaft zur Stelle, mit solchen Methoden nie und nimmer zu arbeiten. Der Konzern ist zwar weiter von seiner Unschuld überzeugt, legt in der Bilanz aber eine Milliarde nach der anderen zurück, um sich auf die Risiken vorzubereiten.

Källenius spricht in freier Rede

Doch Källenius hadert nicht mit dem Erbe. Er blickt nach vorn – und dort steht kein Teleprompter, von dem aus er seine ausführliche Rede ablesen könnte. Källenius spricht völlig frei, und auch die Geschäftszahlen hat der studierte Finanz- und Rechnungslegungsexperte alle im Kopf. Sein Finanz-Fokus ist seine Stärke – aber auch ein Ansatzpunkt für Kritik.

Der gebürtige Schwede, der mit einer Schwäbin verheiratet ist und drei Kinder hat, ist in der Welt der Finanzkennzahlen zuhause. Deren Verbesserung ist auch dringend nötig in einer Situation, in der der Konzern einerseits durch Handelskonflikte und eine abflauende Weltkonjunktur Gefahr läuft, Einnahmen zu verlieren – und andererseits durch Investitionen in neue Antriebstechnologien, in die Digitalisierung, aber auch durch die Dieselkosten Ausgaben zu verursachen, die aus dem Ruder laufen.

Was er vorhat, um die Kosten zu drücken, erklärt er genau: Die Materialkosten sollen bis 2022 einen positiven Effekt auf die Umsatzrendite von drei Prozent erbringen, die Personalkosten um 1,4 Milliarden Euro sinken, Investitionen einschließlich derer für Forschung und Entwicklung auf dem Stand von 2019 eingefroren und ab 2021 gesenkt werden. Doch der Blick nach vorne ist weniger konkret – vor allem, wenn er sich nicht in eine ferne Zukunft richtet, sondern in das, was als nächstes kommt: Wie viele Arbeitsplätze werden abgebaut? Wird man die EU-Grenzwerte von Anfang an einhalten oder erst in späteren Jahren? Eine Zahl der Arbeitsplätze will er nicht nennen; und zu den EU-Grenzwerten sagt er, die sofortige Einhaltung könne er „nicht garantieren“, da die CO2-Werte von der Nachfrage der Kunden abhängen.

Vision: Ärmel hochkrempeln

Källenius ist ein polyglotter Manager, dessen Deutsch immer wieder ins Englische überwechselt, als handle es sich um ein und dieselbe Sprache. „Wir brauchen Empowerment und Accountability“, sagt er zum Kulturwandel und meint damit, dass die Mitarbeiter zwar viel Freiraum für eigene Entscheidungen bekommen sollen, sich aber nicht auf einer Spielwiese befinden und für ihre Entscheidungen die Verantwortung übernehmen müssen. Seine Botschaft ist weniger eine kühne Vision als ein Appell, die Ärmel hochzukrempeln.

Källenius höre sich an, als habe er es mit einem Sanierungsfall zu tun, sagt der Manager eines Zulieferers. Doch der Konzernchef bemüht sich, nicht nur über die Gesundung zu reden, sondern auch die weitere Zukunft in den Blick zu nehmen, und sei es im Augenwinkel. „Wir müssen heute das Kapital im Konzern freibekommen, das für Investitionen benötigt wird.“ Das ist keine kühne Vision, sondern Daimlers neue Realität.