Vor Armin Deisls mobilem Supermarkt steht die Kundschaft Schlange – jedenfalls zum Premierentermin. Zunächst kommt der Bus nur zur Probe. Foto: factum/Granville

Die Stadt lässt einen fliegenden Händler in Gebiete rollen, in denen das Ladensterben nur Leere hinterlassen hat. Im umgebauten Mercedes-Bus lagern 2500 Produkte. Der Betreiber steuert üblicherweise Ziele auf dem Land an.

Sindelfingen - Der Laden brummt, im tatsächlichen wie im übertragenen Sinn. Um die 20 Kunden, allesamt betagt, drängen auf dem Gehweg in Richtung Tür. Nicht wenige stützen sich auf einen Rollator. Sie werden warten müssen, denn mehr als drei, vier von ihnen haben in Armin Deisls Geschäft keinen Platz. Deisl ist gleichsam Onkel Emma auf Rädern. Sein Laden ist ein umgebautes Mercedes-Wohmobil, samt Oberlicht und Alkoven, Baujahr irgendwann im vergangenen Jahrtausend.

Vier Plätze steuert er künftig in Sindelfingen an, immer donnerstags. An diesem Vormittag steht der Lebensmittelbus im Zentrum des Sindelfinger Quartiers Eichholz. Die Kundschaft strömt aus dem benachbarten Stadtteiltreff. Dessen Besucher würdigen erfreut, dass der Kaufmann seinen Geschäften nachgeht. Die Quartiersarbeiterin Sibylle Siegner hat dort eine Art Willkommensfest für den fliegenden Händler vorbereitet. Seine Ankunft „ist schon seit Tagen ein Thema“, sagt Siegner.

Das Wohnblock-Gebiet steht beispielhaft für die Probleme des Einzelhandels

Das Wohnblock-Gebiet steht beispielhaft für die Probleme des Einzelhandels: Lebensmittelkette verdrängt Laden, Discounter verdrängt Lebensmittelkette, Einkaufszentrum verdrängt Discounter, Internethandel verdrängt Einkaufszentrum. Zwischen 2006 und 2016 mussten bundesweit von 410 000 Einzelhändlern 65 000 schließen. Das sind knapp 16 Prozent.

Die Eichholz-Bewohner haben die Entwicklung besichtigen können. Ein paar Schritte weiter vorn, wo ein Busfahrer an seiner Endhaltestelle wartet, gab es bis vor ein paar Jahren einen Lebensmittelladen, einen Metzger, einen Friseur und eine Praxis für Physiotherapie. Der letzte dieser Betriebe schloss 2006. Neu eröffnet haben an ihrer Stelle eine Shisha-Bar und ein Kosmetikstudio. Geblieben sind die Niederlassung einer Bäckereikette und ein Zahnarzt. Eine Weile lang kamen noch einmal die Woche zwei Händler zu einer Art Schrumpf-Wochenmarkt. „Beide mussten krankheitsbedingt aufgeben“, sagt Siegner.

Deisls Unternehmenssitz ist Bad Saulgau. Üblicherweise steuert er Ziele auf dem Land an, in Dörfern, in denen der Einzelhändel tatsächlich hoffnungslos verloren ist: Orte wie Weilersteußlingen. Die Landesregierung hatte eigens ein Förderprogramm aufgelegt, um die Entwicklung auf dem Dorf zu stoppen. Bis zu 200 000 Euro Zuschuss konnten sogenannte Grundversorger für eine Neueröffnung kassieren. Geholfen hat es wenig, nicht nur auf der Schwäbischen Alb. „Land ohne Läden“ titelte beispielsweise die Augsburger Allgemeine Zeitung, und die Sächsische Zeitung beschwor hoffnungsfroh einen „Optimismus gegen Ladensterben“.

Der Oberbürgermeister höchstselbst verteilt Äpfel

Dass das Thema sogar Großstädte erfasst, beweist schon ein Blick in die Reihen leerer Schaufenster in Stuttgarts äußeren Stadtteilen. Entsprechend rege hat sich die Sindelfinger Verwaltung um Deisls Dienste bemüht. Die Idee stammt gleichsam aus der Graswurzel, von den Besuchern des Quartierstreffpunkts. Ehrenamtler notieren dort Bestellungen. Auf Wunsch wird die Ware ins Haus geliefert. Der Wirtschaftsförderer Sascha Dorday verhandelte mit Deisl. Die Anfahrt in den Ballungsraum lässt der fliegende Händler sich mit einigen hundert Euro verkürzen. Zum Premierentermin ist der Oberbürgermeister Bernd Vöhringer höchststelbst erschienen, um Äpfel zu verteilen und das Projekt zu loben.

2500 Produkte hat der Händler nach eigenen Angaben im Bus. Tatsächlich ist bei ihm so ziemlich alles zu bekommen, von der Tiefkühlkost bis zum Katzenfutter, vor allem aber Frisches aus der Region. Heute ist die Tafel Ritter Sport für 59 Cent im Angebot und das halbe Pfund Butter für 1,59 Euro. Deisl selbst zweifelt offenkundig, dass der aktuelle Andrang von Dauer sein wird. Sechs Wochen lang fährt er Sindelfingen nur zur Probe an. Zu den Donnerstagen danach spricht der Wirtschaftsförderer einen Satz, der auch für jeden stationären Händler gilt. Über sie, sagt Dorday, „entscheiden letztlich die Kunden“.