Zurab Zurabishvili, Sung Ha und Astrid Kessler in „La Juive“ in Mannheim. Foto: Hans-Jörg Michel

Dass man eine große französische Ausstattungsoper des 19. Jahrhunderts sehr politisch deuten, ja sogar als episches Theater behandeln kann, bewies am Sonntag der Regisseur Peter Konwitschny mit Fromental Halévys „La Juive“ am Nationaltheater Mannheim.

Mannheim - Jubelnd, singend, tanzend werfen die Mitglieder des Mannheimer Nationaltheater-Chores einander die Insignien der Katholischen Kirche – Mitra, Bischofsmantel, Hirtenstab – zu. Das gotische Rosettenfenster im Hintergrund ist nichts weiter als eine poppige Partybeleuchtung. Rock me, Jesus!

Christen, so steht es in Eugène Scribes effektbewusstem Libretto, sollen diese Menschen sein. Ach was, sagt der Regisseur Peter Konwitschny: Ideologen sind es nur, intolerant, fundamentalistisch – ein Mob, der seine Machtgelüste unter dem Mäntelchen einer Religion versteckt. Juden, schreibt Scribe, seien die anderen. Die Gegner. Im Textbuch zu Fromental Halévys 1835 uraufgeführter Oper „La Juive“ („Die Jüdin“) geht es um Rache, um Ab- und Ausgrenzung zwischen zwei Religionsgruppen. Konwitschny verschiebt die Fronten ins Allgemeine. Sein Bühnen- und Kostümbildner Johannes Leiacker hat der einen Gruppe blaue, der anderen gelbe Handschuhe angezogen.

Blaue Hände, gelbe Hände

So wird das bleiben, die ganze lange Oper lang. Hier die Blauen, dort die Gelben. Hier der Kardinal Brogni (konturiert, aber mit den bei dieser Partie leider üblichen Schwächen in der tiefen Tiefe: Sung Ha), dort der Jude Eléazar (sehr stark, wenn er nicht bei lauten Stellen dynamisch allzu sehr auf die Tube drückt: Zurab Zurabishvili) und seine Tochter Rachel (der Sänger-Star des Abends, stark in Ausdruck, Höhen, Tiefen und Ornamenten: Astrid Kessler).

Bilder und Zeichen der beiden Religionen dienen der Inszenierung nur zum Spiel. Léopold, der (verheiratete) Christ, der sich als Jude ausgibt, um seiner Geliebten Rachel nahe sein zu können, hat eine gelbe und eine blaue Hand. Später, als sich seine Gattin und seine Freundin versöhnen, waschen sich die beiden Frauen gegenseitig in einem Wassereimer die Farbe von den Händen. Es bleibt der einzige Akt der Versöhnung: eine Utopie, mehr nicht.

Was macht den Menschen aus? Was macht ihn besonders? Wenn sich Farbe von den Händen waschen lässt, kann sie es nicht sein. Wenn sich die jüdische Titelheldin von Halévys Oper als Christin und als Tochter eines fremden Vaters entpuppt, dann können es auch Glaube und Verwandtschaft nicht sein. Dann definiert sich Identität ständig neu. Dann sind es die Verhältnisse, die sie schaffen, und: Die Verhältnisse, die sind halt so.

Große Oper als episches Theater

Dieses Zitat frei nach Bertolt Brecht muss schon deshalb sein, weil Peter Konwitschny nicht nur den Glaubenskonflikt ins Abstrakte führt, um ihn in unsere Zeit hinein spiegeln zu können, sondern weil er außerdem einer der monumentalsten Ausstattungsopern der Musikgeschichte immer wieder den Geist des epischen Theaters einhaucht. Schaut her und wundert euch! Licht an im Zuschauerraum – das ist ein sattsam bekanntes Stilmittel des Regisseurs, das hier aber prächtig funktioniert, weil es hilft, die Oper immer wieder von außen zu betrachten.

Überraschendes, Verborgenes und Verdrängtes treten dabei zutage. Wenn sich der Chor im ersten Akt im Zuschauerraum verteilt und den jüdischen Vater auslacht, der auf seiner Unversöhnlichkeit beharrt: Dann desavouiert das nicht nur dessen Starrsinn, sondern enthüllt auch unter der Tragik die Mechanismen der Komödie. Ähnliches gilt für den zweiten Akt, als Rachel im Zuschauerraum sprechend ihrem Ärger Luft macht, während vorne auf der Bühne der Geliebte singt. „Das“, schimpft sie, „soll nun eine Entschuldigung sein?“ Entsprechend unglaubwürdig muss anschließend die Versöhnung beider wirken.

Vorher hat das Objekt ihrer Liebeswut unter dem Tischtuch hervorgelugt, während auf diesem die eigene Gattin die eheliche Liebe pries. Da legt Konwitschny den Finger in die Wunden einer Oper, deren Kolportage-Charakter und deren schablonenhafte Charaktere manchmal einfach Operette sind.

„La Juive“ ist auch Operette

Als sich Eléazar für seine große Szene im vierten Akt ins Publikum begibt, ist die Zielrichtung allerdings genau umgekehrt: Dieser zwischen Liebe und Hass, Menschlichkeit und ideologischer Vereinnahmung hin- und hergerissene Mann gibt sich hier als einer von uns, einer von heute, und es ist nur folgerichtig, dass ihn das Volk von einer Bühne aus verlacht, auf der es um Schein geht, nicht um Sein.

Peter Konwitschnys Schritte zurück sind eine erhellende Wohltat. Sie zeigen, dass nichts nur das ist, was es zu sein scheint. Halévys Oper „La Juive“ ist nicht nur große Oper, sondern auch ganz klein, nämlich Operette; sie ist nicht nur tragisch, sondern auch Komödie, ja manchmal gar Klamotte. Das macht auch das Orchester des Nationaltheaters Mannheim deutlich, das, obschon nicht immer optimal intonierend und auch nicht immer optimal koordiniert, unter Alois Seidlmeiers Leitung das Leichte wie das Schwere stilgerecht und oft sehr klangschön aufbereitet.

Appell gegen Fundamentalismus

Die epische Distanz zum musikdramatischen Objekt bewirkt außerdem, dass dessen Stoff vielsträngiger, vielschichtiger, diskursiver, also schlichtweg: heutiger wirkt. Wenn in der letzten Szene des dritten Aktes der Chor im Takt der Musik am Fließband Sprengstoffgürtel für Selbstmordattentäter fertigt, dann mag das zunächst plump wirken, aber es passt zu Konwitschnys szenischem Appell für menschliches Miteinander und gegen pauschale Ausgrenzung, Fanatismus und Fundamentalismus.

Dass am Ende die beiden Juden als Hochzeitspaar in den Tod gehen, verleiht dem zynischen Triumph Eléazars über den christlichen Widersacher einen Hauch von Absurdität. Ein solcher Hauch findet sich auch im Schaffen eines Regisseurs, der die Gattung Oper vor der Premiere als asozial und sein Tun („Ich habe nichts anderes gelernt“) als sinnlos bezeichnete. Das ist schade – vor allem für die asoziale Oper. Auf soziale Sozialisten wie Peter Konwitschny kann sie nämlich einfach nicht verzichten.