Szene aus Andrea Moses’ Inszenierung von „La Bohème“ Foto: A. T. Schaefer

Im Littmann’schen Labyrinth der Stuttgarter Oper haben sich die leisen Töne verlaufen. Laute Stimmen, laute Bühnen­bilder. Die Brillo-Box von Andy Warhol steht rum in „La Bohème“. Die Künstler spielen im Showroom Oper Leben vor.

Im Littmann’schen Labyrinth der Stuttgarter Oper haben sich die leisen Töne verlaufen. Laute Stimmen, laute Bühnenbilder. Die Brillo-Box von Andy Warhol steht rum in „La Bohème“. Die Künstler spielen im Showroom Oper Leben vor.

Stuttgart - Drei Stunden vor der Premiere – fünf Tage nach der Europawahl – wurde publik, dass der Bundesnachrichtendienst (BND) künftig die sozialen Netzwerke Flickr, Facebook und Twitter schon auswerten will, noch während die Nutzer aktiv sind. „Echtzeitanalyse von Streaming-Daten“ heißt hausintern der Plan. In „Echtzeit“ hätten die Geheimdienstler des BND am Abend Mimis schluchzfreiem Sterben auf der Opernbühne beiwohnen können. Und weil der amerikanische Geheimdienst NSA, so wurde am Sonntag bekannt, Millionen von Bildern aus dem Internet sammelt, um auf der Jagd nach Zielpersonen Gesichter digital erkennbar zu machen, hätte er gar nicht lange fischen müssen.

Mimi bietet sich in ihrer Stuttgarter Performance als potenzielle Zielperson an. Sie selbst hat die Videokamera aktiviert; das Bild auf der großen Videoleinwand friert ein – eine große Pause des Orchesters, es ist schon die zweite, die so nicht in der Partitur steht, kündigt Mimis Tod an. Spot aufs Sofa – das Leinwandgesicht verliert seine Farbe – ein roter Punkt signalisiert: Das Bild ist verkauft. Die Bohemiens sind Teil der Ausstellung „Vie de Bohème“, benannt nach dem Drama von Henri Murger; Rodolfo, Marcello, Colline, Schaunard spielen in der Galerie, die Atelier und Showroom ist, einer unkomischen Klamotte entliehenen Ausstellungsbesucherinnen in einem Akt der Selbstvermarktung ihr Leben vor.

Es gibt in diesem vierten Bild einen überzogenen Opernbühnenaktionismus im imaginierten Bankett, wie ihn das Laientheater pflegt. Auf der Sprechbühne käme man damit nicht durch. Aus dem jungen Sängerensemble leiht zum Beispiel Adam Palka dem Philosophen Colline schrullige und der aus Empathie geborenen Mantelarie hölzerne Züge. Marcello, der Maler, geht in Gestalt von Bogdan Baciu als prolliger Kraftkerl durch die Szene, doch legte Puccini auch ein Zartgefühl in die raue Seele. André Morsch gebietet nicht über eine vergleichbare baritonale Wucht, aber seine vokale und mimische Leichtigkeit macht Schaunard, auch er eine ziellose Existenz und kaum ein gesellschaftlicher Außenseiter, zu einer sympathischen Figur.

Die Zerstörung der Privatsphäre durch die totale Ausspähung der Geheimdienste findet ihre Entsprechung in der Totalauslieferung des Privaten an Weblogs, Foren und Internetportale. Gelegentlich findet diese Wirklichkeit schon ins Theater. Die Bohemiens, allesamt Hungerleider, filmen sich selbst.

Andrea Moses (Regie) und Stefan Strumbel (Bühnenbild) sind bei der Videokunst und im fortgeschrittenen Theater der 1970er Jahre angekommen, das sich damals bei einer Kunstströmung bediente, die Fluxus hieß. Scheinwerfer, Kamera, Mischpult, eine Bildschirminstallation mit bewegten und stehenden Bildern gehören zum Mobiliar der verkrachten Künstler.

Die Näherin Mimi, aus Afrika eingewandert, nimmt ihre Arie („Mi chimano Mimi“) selbstverständlich für You Tube auf. Pumeza Matshikiza, in Mantel und Kopfbedeckung ihrer Heimat, geht scheu und ergeben den ihr vorgezeichneten Weg, ihr Charakter wird nicht deutlich. Große Bögen in den Arien, wenig gestaltet, farbarm, spannungslos. Ein fülliger, etwas eingedickter, leicht zu tief gestimmter und von Traurigkeit überschatteter Klang. Die Stimme belegt, nicht am richtigen Platz, weshalb sich der Ton nicht verdichten oder fein malen kann. In Momenten innerer und äußerer Erregung wäre das Vibrato ein entsprechend zu dosierendes Mittel des Ausdrucks, so aber . . . Es ist alles immer da, und alles klingt immer gleich, was schade ist und auch ein wenig schmerzt, wenn man das (nicht nur so) hinschreibt.

Pink und Pop sind Motive des Abends. Pink ist ein Zustand. Pinkfarbene schwäbische Nudeln presst Strumbel aus seiner groß plakatierten Spätzlespresse. Der auf den Kopf gestellte Mercedes-Stern krönt als Peace-Zeichen den blinkenden Weihnachtsbaum. Der Platz am Café Momus: eine Shopping-Mall mit kostümiertem Volk, Schneehasen, Pinguin, Engel, Eisbären, Schneekönigin, Nackttänzerin, Früchten, Bunnys im Weihnachtshäs; die Kinder neonfarben kostümiert. Eine Musical-Menagerie. Die leichtlebige Musetta erscheint in blonder Riesenperücke (schräg und schrill: Yuko Kakuta), kratzbürstige Karikatur. Den Chor hat Christoph Heil auf Zack gebracht.

Die demonstrative Geschmacklosigkeit einer vom Wal-Mart-Konzern gesponserten Konsumparty (Kostüme: Anna Eiermann) sieht nach Verlegenheit aus. Der Spießertraum verpufft in einem Knall. Vermummte Polizisten beenden das Spektakel. Das macht Effekt, aber wo in aller Welt käme die Staatsmacht und überfiele Konsumenten? Doch eher die Gegendemonstranten! Die Herzchen- und Heimatliebe des ehemaligen Streetart-Künstlers Strumbel („Heimat loves you“) prägt dann die Container-Welt im dritten Bild. Dinge gehen vor Figuren. Das Bühnenbild dominiert die Personenregie, der Mensch ist Staffage.

Doch erst die Musik macht die Oper. Damit ist es an diesem Abend nicht so weit her. Schwer liegt der Gesang im Ohr. Dramatisches Singen verlangt kein Dauerforte. Laut und pauschal auch Atalla Ayan, trotz Anflügen von vokalen Gesten und emphatischer Wortbehandlung. Rodolfos Lächeln, seine schier unentwegte Entspanntheit spiegeln sich nicht in seinem Gesang. Im Leisen verliert Ayans Stimme an Substanz. So geht man als Bühnenfigur durch Zeiträume, ohne dass dies vokale und mentale Spuren hinterlässt.

Ein kammermusikalischer Geist, Verdis „Falstaff“ ähnlich, lebt auch in Puccinis musikalischer Prosa. Simon Hewett lässt beim Staatsorchester keine Sentimentalität aufkommen, koordiniert wachsam, doch die Achtsamkeit lässt zum Ende hin nach. Nein, emotional bewegt dieser Abend nicht.

Wieder am 4. und 15. Juni (14 und 19 Uhr)