Anno dunnemals hörte das Fräulein von der Telefonvermittlung (fast alles) mit: eine Quelle von Gerüchten, die in die Welt hinausgingen. Foto: everettovrk/Adobe Stock

In Krisenzeiten herrscht Verunsicherung. Wie geht es weiter, was ist zu tun, von wem kommt Hilfe? Das ist die Stunde des Gerüchts.

Stuttgart - „Seit mehreren Jahren schon hatte die indische Cholera eine verstärkte Neigung zur Ausbreitung und Wanderung an den Tag gelegt. Erzeugt aus den warmen Morästen des Ganges-Deltas, aufgestiegen mit dem mephitischen Odem jener üppig-untauglichen, von Menschen gemiedenen Urwelt- und Inselwildnis, in deren Bambusdickichten der Tiger kauert, hatte die Seuche in ganz Hindustan andauernd und ungewöhnlich heftig gewütet, hatte östlich nach China, westlich nach Afghanistan und Persien übergegriffen und, den Hauptstraßen des Karawanenverkehrs folgend, ihre Schrecken bis Astrachan, ja selbst bis Moskau getragen.“ So farbig-fantastisch, dem sicher und bequem verstauten Leser einen wohligen Schauder der Sensation verpassend, schildert Thomas Mann in seiner Novelle „Tod in Venedig“ die am Ende für seinen Protagonisten Gustav von Aschenbach tödliche Seuche. In Zeiten einer realen Epidemie mitten in Deutschland fällt alles Pittoreske der Schilderung nun fort.

Aschenbach hört gerüchteweise von der Gefahr. Behördliche Verlautbarungen wiegeln ab, spielen die Zahl der Todesfälle herunter. Der Tourismus soll nicht leiden. Schließlich sucht Aschenbach besorgt ein englisches Reisebüro auf, wendet sich an einen Angestellten, der ihm mitteilt: „,Kein Grund zur Besorgnis, Sir. Eine Maßregel ohne ernste Bedeutung. Solche Anordnungen werden häufig getroffen, um gesundheitsschädlichen Wirkungen der Hitze und des Scirocco vorzubeugen . . .‘ Aber seine blauen Augen aufschlagend, begegnete er dem Blicke des Fremden, einem müden und etwas traurigen Blick, der mit leichter Verachtung auf seine Lippen gerichtet war. Da errötete der Engländer. ,Dies ist‘, fuhr er halblaut und in einiger Bewegung fort, ,die amtliche Erklärung, auf der zu bestehen man hier für gut befindet. Ich werde Ihnen sagen, dass noch etwas anderes dahinter steckt.‘ Und dann sagte er in seiner redlichen und bequemen Sprache die Wahrheit.“

Zu jedem krisenhaften Weltgeschehen findet sich der Roman der Stunde. Während die gegenwärtige Coronavirus-Epidemie Staaten, Kontinente erstarren lässt, kommt Thomas Manns Erzählung in den Sinn, Alessandro Manzonis Roman „Die Verlobten“, in der die in Mailand – welche bittere Parallele – herrschende Pest das Gute und das Schlechte im Menschen hervorbringt, möglicherweise auch „Die Pest“ von Albert Camus. Wie jedem guten Roman wohnt dem Geschehen eine Allegorie inne, weist über sich hinaus. Bei Camus sind die deutsche Okkupation Frankreichs und die Welt der Konzentrationslager gemeint. Vor der Seuche ist nach der Seuche: Was lehrt das Geschehen für Moral, Ethik und Gesellschaft einer Zeit danach?

Abgeschnitten von gesicherten Informationen

Das Gerücht spielt im Fiktionalen als kommunikatives Werkzeug seine Rolle, so wie es in der Realität ein Auslöser von Hoffnung und Verzweiflung ist. In Victor Klemperers Tagebüchern der Jahre 1933–1945, posthum herausgegeben unter dem Titel „Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten“, in der der Romanist die Judenverfolgung in Dresden dokumentiert, ist das Gerücht eine stetig rieselnde Informationsquelle. Klemperer, der aus einer jüdischen Familie stammte, überlebte allein wegen der fest zu ihm haltenden „arischen“ Ehefrau Eva.

Die Klemperers waren wie alle Schicksalsverwandten zunehmend abgeschnitten von gesicherten Informationen. Presse und Radio, so zugänglich, verbreiteten Propaganda, die Wahrheit war sprachlich verschleiert; zum Beispiel wenn es um Verluste und Frontbewegungen während des Kriegesging. Die öffentliche Hetze gegen Juden war maßlos, aber über das, was im seit Mai 1940 bestehenden Konzentrationslager Auschwitz geschah, gab es kein offizielles Wort. An diese Stelle traten zugeflüsterte Nachrichten.

Schon im März 1942 notiert Klemperer als Gerücht: „Als furchtbarstes KZ hörte ich in diesen Tagen Auschwitz (oder so ähnlich) bei Königshütte in Ob. Schlesien nennen. Bergwerksarbeit, Tod nach wenigen Tagen.“ Und kurz zuvor, im Januar 1942, hält er fest: „Paul Kreidl erzählt – Gerücht, aber von verschiedenen Seiten sehr glaubhaft mitgeteilt – es seien evakuierte Juden bei Riga reihenweis, wie sie den Zug verließen, erschossen worden.“ Tatsächlich waren Ende November 1941 etwa 50 000 Juden aus verschiedenen deutschen Städten nach Riga deportiert worden.

Verschwörungstheorie und gezielte Falschinformation

In höchster Bedrängnis, im Dezember 1944, die jüdischen Teile der Mischehen waren nun doch von Deportation bedroht, entfaltet eine Notiz von Klemperer beinahe schwarze Komik, zumal in Zusammenhang mit der Lektüre, die ihn gerade beschäftigt: „Gerücht über Hitler: er sei am 20. Juli ,gegen die Decke geflogen‘, sein ,Gehirn setze zeitweilig aus‘. – Ich las das kleine Inselbändchen: Stefan Zweig: ,Sternstunden der Menschheit. Fünf historische Miniaturen‘.“

In jenen Zeiten hatte das Gerücht existenzielle Bedeutung. Heute kennt man es mutiert. Die Verschwörungstheorie ist sein durchgedrehter Nachkomme und hat zum nicht weniger asozialen Geschwister die (gezielte) Falschinformation. Früher als Hoax bekannt, läuft sie in heutigen Twitterzeiten unter dem Namen Fake News; ein schillernder Überbegriff, denn gemeint sind damit alternative Fakten ebenso wie Lügen. Populär geworden sind sie durch den US-Präsidenten Donald Trump, der ihm kritisch gegenüberstehende Medien regelmäßig bezichtigt, Falschinformationen über ihn und seine Politik zu verbreiten. Dabei ist es meistens ein Leichtes, ihn selbst der Unwahrheit zu überführen. Die 2009 mit dem Pulitzer-Preis für herausragenden Journalismus ausgezeichnete Internetplattform Politi-Fact, die Aussagen von Politikern auf ihren Wahrheitsgehalt prüft, hat seit Trumps Amtsantritt reichlich zu tun. Nach einer Zählung der „Washington Post“ hat Trump bis 2019 mehr als 10 000 falsche und irreführende Behauptungen von sich gegeben.

Die Tagebücher von Victor Klemperer

Gerüchte sind manchmal unzutreffend, ihre Inhalte werden oft in Notzeiten verbreitet – früher, bevor es elektronische Medien gegeben hat, von Mund zu Mund. Das offene Aussprechen konnte lebensgefährliche Konsequenzen haben, auch das belegen die Tagebücher von Victor Klemperer. Die Kraft eines Gerüchts bemisst sich aus seinem Kontext. Warum und wie es zustande kommt, hat verschiedene Ursachen. Es gibt einige wiederkehrende Muster.

1. Das unschuldige Gerücht: Es entsteht, wenn die Nachrichtenkette durch Krieg oder Katastrophen unterbrochen wird. Wenn staatliche Stellen organisatorisch vorläufig nicht in der Lage sind, Bürgerinnen und Bürger korrekt zu informieren, gelangen nur Teilwahrheiten an die Öffentlichkeit.

2. Das unterdrückende Gerücht: Die Wahrheit eines Ereignisses wird in Abrede gestellt, weil es von gesteigerter Sprengkraft ist. Das Gerücht vom bloßen Gerücht einer sich ausbreitende Cholera veranlasst Gustav von Aschenbach in Manns Novelle, argwöhnisch zu werden, der Sache auf den Grund zu gehen.

3. Das misstrauende Gerücht: Es stellt eine Steigerung zum vorangegangenen dar. Ein Tatbestand wird unterstellt, ohne ihn zu beweisen. Am Beginn der Ausbreitung des Coronavirus in Deutschland wurden vielfach Virologen zitiert, die meinten, das Tragen von Masken in der Öffentlichkeit sei für den gemeinen Bürger nicht von besonderem Nutzen. Schnell verbreitete sich die Fama, sie behaupteten das lediglich, weil die Regierung allergrößte Probleme hätte, ausreichend Masken vorzuhalten. Nun gibt es Wochen später tatsächlich Engpässe bei Schutzkleidung und Masken in deutschen Kliniken – trotzdem kann keine Rede davon sein, dass die Regierung die Experten zu ihren Stellungnahmen angehalten hatte, um etwas zu vertuschen.

Hat die Mondlandung nie stattgefunden?

2009 diagnostizierte der kürzlich verstorbene Soziologe Klaus Merten, ein Schüler von Niklas Luhmann, eine „bedingt durch das Internet stark vergrößerte Zahl der Gerüchte“, und vor allem, „dass ihr Einfluss und ihre Wirkung ganz erheblich zugenommen haben“. Im harmloseren Fall ist es ein Gerücht wie das, die erste Mondlandung habe nie stattgefunden, sondern sei in einem Hollywoodstudio nachgestellt worden. Folgenschwer wird es, wenn der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro behauptetet, die Atemwegserkrankung Covid-19 sei nicht mehr als eine „leichte Grippe“. Der privilegierte Politiker mag Maßnahmen für sich ergreifen, die ihn verschonen (oder auf die Vorsehung bauen, da er auch den Vornamen Messias führt) – wer leichtgläubig ist, folgt diesem „Gerücht“ und schränkt seine sozialen Kontakte nicht ein, erkrankt, stirbt womöglich.

Der Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen stellt in einem „Zeit“-Artikel fest: „Es herrscht eine fatale Asymmetrie zwischen der massenhaften Verbreitung eines Gerüchts und seiner Korrektur. Weil so viele Menschen ein Gerücht beispielsweise auf Facebook sehen, erscheint es als Wahrheit.“ Richtigstellungen dringen kaum vor, denn sie werden lange nicht so intensiv verbreitet wie die Fama selbst. Pörksen hat dafür eine schlicht menschliche Erklärung: „Unter anderem, weil es peinlich ist, einer Fehlinformation aufgesessen zu sein, die man nun korrigieren muss.“

Die Chancen des globalen digitalen Netzes sind zugleich seine Schwäche: „Immer mehr Menschen informieren sich im Internet. Dort stehen Meinung, Gerücht und wissenschaftliches Ergebnis ununterscheidbar nebeneinander. Es fehlt an Orientierung und Qualitätskriterien“, konstatiert Mojib Latif, Klimaforscher an der Universität Kiel.

Zugang zu gesicherten Informationen ist größer denn je

Wir befinden uns in der paradoxalen Situation, dass der Zugang zu gesicherten Informationen und Daten größer ist denn je. Was immer man nimmt: Gesetzestexte, Börsenbilanzen, Statistiken zu allen möglichen Dingen, mögen sie irrelevant sein oder entscheidend für das Weiterkommen der Menschheit – viele dieser Fakten sind leicht abrufbar. So ist es bei einer ausbrechenden Epidemie gut zu wissen, wie viele Betten in Intensivstationen pro 100 000 Einwohner zur Verfügung stehen. Andererseits müssen diese Fakten bewertet und interpretiert werden – man benötigt digitale Lesekompetenz, um Wahres und Falsches zu unterscheiden. Und Instinkt, wie Gustav von Aschenbach, der „den fauligen Geruch der Lagune“ wahrnahm.

Gerüchte, so sie nachweislich falsch sind, mögen den öffentlichen Diskurs hemmen, die demokratische Willensbildung erschweren, doch stabile Demokratien sind in der Lage, sie zu ertragen. Ein Blick nach Ungarn zeigt, warum. Dort verabschiedete das Parlament vor wenigen Tagen ein Gesetzespaket des Ministerpräsidenten Viktor Orbán, das Strafrechtsänderungen enthält. Haftstrafen von bis zu fünf Jahren drohen für das Verbreiten von „Falschnachrichten“ über das Coronavirus. Die letzten freien Medien Ungarns werden so unter Druck gesetzt, eine kritische Berichterstattung über die Regierung erschwert. Nun lässt sich ein Presseartikel leicht als Gerücht denunzieren. Und bestrafen. Das ist der falsche Umgang mit Gerüchten.