Dirigent der Einheit: Kurt Masur Foto: dpa-Zentralbild

2012 gab Kurt Masur bekannt, dass er seit Jahren an Parkinson erkrankt sei. Am Freitag ist der langjährige Chefdirigent des Leipziger Gewandhausorchesters im Alter von 88 Jahren gestorben. Er wird als musikalischer und politischer Vermittler in Erinnerung bleiben.

Musik, pflegte der bedeutende Musikwissenschaftler Hans-Heinrich Eggebrecht (1919–1999) gerne anzumerken: Musik kann nicht sagen „Ich hab’ ein Loch im Strumpf“. Über die Bedeutung, die Besonderheit und die (mangelnde) Konkretheit von Klängen mag er vorher mit Studenten eine Diskussion geführt haben, die zunehmend philosophischer wurde. Was Musik denn überhaupt leisten könne und solle, könnte dabei gefragt worden sein, und ob es denn sein könne, dass eine Kunst, auch wenn sie nichts zu sagen hat und einfach nur schön ist, dennoch wichtig, ja: unentbehrlich sein kann?

Auch Beethovens Sinfonien sagen nirgends „Ich hab’ ein Loch im Strumpf“. Eine konkrete Botschaft hat nur der letzte Satz der Neunten, weil der Komponist hier Schillers „Ode an die Freude“ in Töne gesetzt und mit ihrer Hilfe eine humanistische Botschaft formuliert hat. Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass Beethoven seine Solisten und seinen Chor in diesem Satz nicht etwa überforderte, weil er damals schon fast ganz taub war, sondern dass er einem Unmöglichen Ausdruck verlieh. Einem Ideal, das in der Menschheitsgeschichte immer und immer wieder ad absurdum geführt wurde und das doch immer wieder formuliert und eingefordert werden muss.

Beethovens und Masurs Ethos

Auch andere, nicht textbezogene Werke Beethovens haben das Ethos des „Alle Menschen werden Brüder“ verinnerlicht. Bei keinem anderen Komponisten steht die Durchführung, also der Teil der Werke, in dem die musikalischen Themen durchgeknetet, auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt werden, so sehr im Mittelpunkt wie bei Beethoven. Nichts ist, was es scheint, nichts bleibt, was es war, und aller Herrschaftsanspruch, alles Absolutheitsdenken ist falsch: Das ist Beethovens musikalische, humanistische, politische, demokratische Botschaft. Und das ist eine Haltung, die auch Kurt Masur prägte. Mit gutem Grund hat der 1927 in Brieg (Schlesien) geborene Dirigent eine ganz besondere, starke Beziehung zu Beethovens Werken gehabt. Ihr Rückgrat war auch das seine.

Noch 2012 hat Kurt Masur Beethovens Sinfonien aufgeführt, obwohl ihm seine Krankheit das Umblättern der Partituren bereits schwer machte. „Manches“, hat der Dirigent der Verfasserin dieser Zeilen kurz zuvor einmal hinter der Bühne gesagt, „muss eben immer wieder gesagt werden, damit es irgendwann vielleicht doch jemand hört.“

Von 1970 bis 1996 war Masur Chef des Gewandhausorchesters Leipzig

Die Botschaft war ihm wichtig. Sie hat Masur stark gemacht, ihn aber auch eine Bescheidenheit gelehrt, die nicht viele Künstler haben und bewahren. Und sie hat mit dazu beigetragen, dass man sich an Kurt Masur zuallererst als Dirigenten der deutschen Wende erinnern wird: als einen eigentlich scheuen Mann, der hinter dem Megafon lautstark den gewaltfreien Widerstand gegen den Staat einforderte, in dem er groß geworden war und der ihn groß hatte werden lassen. Und das, obwohl er immer wieder Unerwünschtes geäußert und sogar jene Sinfonien Dmitri Schostakowitschs aufgeführt hatte, die sich als kritisch-groteske Reflexe auf die Diktatur Stalins deuten ließen.

Von 1970 bis 1996 war der gelernte Elektriker Chef des Leipziger Gewandhausorchesters – als Nachfolger des Tschechen Václav Neumann, der 1968 nach der Niederschlagung des Prager Frühlings, an der auch Truppen der DDR beteiligt waren, aus Protest gekündigt hatte. Mit intelligenten Programmen, einer Öffnung nach außen und zahlreichen Auslandsreisen verteidigte Masur den Traditionsklangkörper erfolgreich gegen eine ideologische Vereinnahmung. Sogar einen Neubau des Gewandhausgebäudes hat der Dirigent dem Staat abgetrotzt. Als in der Endzeit der DDR rund um das Gewandhaus die Montagsdemonstrationen tobten, lud er die Menschen zur Diskussion nach drinnen.

„Keine Gewalt!“ fordert Masur 1989

Am 9. Oktober 1989 unterzeichnet Erich Honecker einen Einsatzbefehl, demzufolge „die konterrevolutionären Demonstrationen mit aller Gewalt niederzuwerfen“ seien. In Leipzig wird angeordnet, Kinder bis 15 Uhr aus Schulen und Kindergärten abzuholen und die Innenstadt zu meiden. Für westliche Journalisten bleibt die Stadt gesperrt. Krankenhäuser räumen Betten frei; Ärzte werden angewiesen, sich in Bereitschaft zu halten. Schwer bewaffnete Polizeitruppen postieren sich in der Nähe des Gewandhauses.

Es ist die Stunde des Mannes, der wie kein anderer auf beiden Seiten als moralische Instanz geschätzt wird. Gemeinsam mit dem Kabarettisten Bernd-Lutz Lange, dem Theologen Peter Zimmermann sowie den SED-Bezirkssekretären Roland Wötzel, Kurt Meyer und Jochen Pommert gründet Kurt Masur die „Gruppe der sechs“ und verfasst einen Aufruf, der in den Kirchen und im Stadtfunk verbreitet wird. „Keine Gewalt!“, lautet die eindringliche Forderung. Auch die Politiker wollen sich die Hände nicht schmutzig machen. In der Folge wird am frühen Abend die Bereitschaftspolizei abgezogen. Die Scharfschützen auf den Dächern bleiben untätig. Es gibt keine Verhaftungen. 70 000 Demonstranten gehen abends nach Hause. Es ist der Tag, an dem die DDR den Widerstand gegen den Widerstand aufgibt.

Masur war kein Glamour-Dirigent, sondern ein solider Kapellmeister

Es verwundert nicht, dass Kurt Masur später sogar als Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten im Gespräch war. Schließlich sind solche wie er selten: Menschen mit Prinzipien und Zivilcourage, Kämpfer im Herzen, die anders denken, die gewohnt sind, sich durchzusetzen und die sich selbst dennoch nie über die Sache stellen.

Dazu passt auch das dirigentische Profil. Kurt Masur war kein Glamour-Pultstar, sondern ein Kapellmeister, der sich auch in der Musik vor allem als Vermittler verstand. Ein Sachwalter der (deutschen) Tradition, eine Autorität, die sich durch Wissen und Können legitimierte, ein disziplinierter Arbeiter, der Disziplin einforderte. Nachdem Kurt Masur 1991 das New York Philharmonic Orchestra übernommen hatte, verpflichtete er dessen Musiker einmal dazu, als Zuhörer bei einem Gastspiel des Leipziger Gewandhausorchesters dabei zu sein. Sie haben daraus gelernt – und haben sich unter Masurs Leitung (bis 2002) weitaus mehr als unter seinem brillanten Vorgänger Zubin Mehta auf den Weg zu einem Spitzenorchester mit einem weicheren, wärmeren, ausdrucksvolleren Klang gemacht.

Auch das London Philharmonic Orchestra (ab 2000) und das Orchestre National de France (ab 2002) hat Kurt Masur musikalisch geprägt: grundsolide und unbeirrt von Moden und Marotten. Dabei ist es ihm stets weniger um die Ausarbeitung von Nuancen gegangen als um das große Ganze. Zumal nach der Revolution der historisch informierten Aufführungspraxis stand diese Haltung dem allgemeinen Trend entgegen. Masur forderte Ebenmaß, Schönheit, Balance: als klingendes Abbild einer Welt, wie sie sein könnte. Oder als Aufforderung an die Welt, zumindest in Teilen so zu sein, wie sie sein sollte. Auch dies sollte man nicht vergessen.