Eines der einst als Geschmacksverirrungen im Landesgewerbemuseum ausgestellten Dinge: die Karikatur eines deutschen Soldaten als Nadelkissen.Foto: Landesmuseum Württemberg/Hendrik Zwietasch Foto:  

Ein Nadelkissen, bei dem die Nadeln im bloßen Hintern eines Gendarmen stecken; ein Kamm mit der Form von Frauenbeinen: Das Landesgewerbemuseum, das auch Geschmacksverirrungen des Kunsthandwerks ausstellte, würde dieses Jahr 125 Jahre alt.

Stuttgart - Württemberg gilt nicht gerade als Hochburg der frühen Industrialisierung im 18. und 19. Jahrhundert, und als sich die Könige ihr landwirtschaftlich geprägtes Reich damals so anschauten, kamen sie darauf, dass sie ihren Handwerkern und Händlern unter die Arme greifen mussten, wollten sie im Wettbewerb der Länder den Anschluss nicht verlieren. Eine Form der Wirtschaftsförderung um 1850 war das Sammeln von Mustern. So zogen Beauftragte des Königreichs durch Nachbarländer und erstanden Tausende von Gegenständen, von Brillengestellen bis Zahnbürsten – später auch auf den alle paar Jahre stattfindenden Weltausstellungen wie 1900 in Paris. Diese Zeugnisse früher Industriespionage kamen in ein spezielles Musterlager, das 1850 in der alten Legionskaserne dort an der Oberen Königstraße eingerichtet wurde, wo heute der Wilhelmsbau steht. Später wurde die Sammlung so groß, dass daraus ein Landesgewerbemuseum werden sollte, für das bis 1896 das heutige Haus der Wirtschaft an der Schlossstraße errichtet wurde. Nachdem das Gebäude im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigt worden war, gab die Politik die Einrichtung auf und verteilte seine Objekte auf andere Museen wie die Landesmuseen Württemberg und Baden oder die Staatsgalerie.

 

Schön ist, was dem König gefällt

„Zur Gründungszeit des Landesgewerbemuseums gab es die Angst, dass die Dinge durch die Massenfertigung keinen künstlerischen Wert mehr haben würden“, sagt Maaike van Rijn, die Sammlungsleiterin Mode und Textil, Kunsthandwerk und Design im Landesmuseum Württemberg. Das erklärt, weshalb Gustav Edmund Pazaurek – von 1906 bis 1932 Museumschef – nicht nur das Schöne für vorzeigbar hielt. „Es wurden damals große Sammlungen angelegt, um zu zeigen, was angewendet werden kann“, sagt van Rijn, „Pazaurek wollte aber auch hässliche Dinge zeigen“. Damit die Handwerker auch sahen, was sie lieber nicht anfertigen sollten. Gilt heutzutage das Motto „Schön ist, was gefällt“, galt damals eher „Schön ist, was dem König gefällt“ – oder seinen Statthaltern. Pazaurek immerhin versuchte, seine Beweggründe transparent zu gestalten und definierte laut van Rijn genauer, warum er etwas für „Unkraut des Ungeschmacks“ hielt. „Er unterschied dabei hauptsächlich in Materialfehler, Konstruktionsfehler und Dekorfehler“, sagt die Kuratorin, also ob etwas sozusagen überdekoriert ist. Wie andernorts auf der Welt bemühte man sich auch in Württemberg um klare Aussagen zu ästhetischen Fragen. Dazu, wie Moderne aussehen soll.

Die Schuhcremedose „Deutsche Heldencreme von 1914“ etwa empfand der böhmisch-deutsche Kunsthistoriker, der Mitglied des Deutschen Werkbund war, als Verballhornung der deutschen Reichsfarben und sortierte sie in seinen Kategorien des schlechten Geschmacks „Hurra-Kitsch“ oder „Weltkriegs-Greuel“ ein.

200 laufende Meter Aktenordner durchforstet

So klar wie in diesem Fall ist aber nicht immer, weshalb Objekte in der Sammlung von Geschmacksverirrungen landeten. Das könnte in Forschungsprojekten geklärt werden, die derzeit am Landesmuseum laufen. Seit November 2019 werden rund 200 Meter Aktenordner durchforstet, um zu erfassen, was überhaupt den Weg ins Landesgewerbemuseum fand und warum. In diesem Jahr geht es laut Maaike van Rijn dann um die Objekte selbst und die Umstände ihres Ankaufs. Zum 125-jährigen Bestehen des Landesgewerbemuseums soll es dieses Jahr eine Ausstellung im Landesmuseum Württemberg geben.