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Das Kunstmuseum Stuttgart zeigt die überraschende Vielfalt der Rasterstruktur in der Kunst seit 1945.

Stuttgart - Die Folienstreifen recken sich, überkreuzen sich, umtänzeln sich – es ist ein eigenwilliges und wie immer bei der Stuttgarterin auch humoriges Treiben, das Pia Maria Martin in ihrem konventionell produzierten Film „Scherzo“ präsentiert. Abwickeln, aufwickeln, entwickeln – das sind Themen, die Pia Maria Martin mit scheinbar leichter Hand inszeniert. Wohl ist das Raster, nach dem das Überlagern und Durchdringen stattfindet, ablesbar, als Ergebnis aber will sich ein Raster nicht wirklich ergeben oder gar bestätigen. Erwartungen unterlaufen, im Spiel den Ernst bewahren, und im Ernst das Spielerische nicht verlieren – all dies steckt in Martins „Scherzo“ und bietet einen nahezu idealen Auftakt für die von Simone Schimpf für das Kunstmuseum Stuttgart erarbeitete Schau „Rasterfahndung“.

Schärfung der Sinne

Allein der Titel dürfte dem Projekt reichlich Rückenwind geben. Und die Lust wecken, über den eigentlichen Begriff hinausdenken zu wollen. Rasterfahndung – dies meint in dieser Schau zuvorderst die Fahndung nach dem „Raster in der Kunst seit 1945“, wie es denn auch im Untertitel heißt. Augen- und Sinnestäuschung ist Simone Schimpf, stellvertretende Leiterin des Kunstmuseums, gleichwohl nicht vorzuwerfen. Wie auch, wenn Augen und Sinne geschärft werden. Und dies ebenso über die einzelnen der 150 Werke von 50 Künstlerinnen und Künstlern wie auch – und in ganz besonderer Weise – über die kluge Organisation deren Zusammenspiels in den klug gesehenen Räumen und Raumzusammenhängen. So entsteht, was gemeinhin nicht zu erwarten ist – Spannung und Vielfalt aus einer doch scheinbar wenig überraschenden Logik.

Die Unschärfe der historischen Herleitung – neben Piet Mondrian wären vor allem die russischen Konstruktivisten zu nennen – kann nicht Ausgangspunkt kritischer Annäherung sein. Vielleicht aber wäre der Hinweis auf die rückblickenden umfassenden Auftritte der Zürcher Konkreten (zu denen man auch den Wahl-Stuttgarter Anton Stankowski zählen muss) um 1960 hilfreich, um die Spannung zu verstehen, in der und aus der Künstler wie Jan Schoonhoven und François Morellet nach einer Neubestimmung vorbestimmter Farbformstrukturen suchen. Der Ablauf ist klar, und doch entwickelt sich immer wieder anderes. Das ist bei Manfred Mohr nicht weniger spannungsvoll zu sehen als in den Werken des jung gestorbenen Peter Roehr. Letzterer agiert mit gefundenem Material, entscheidet allein über den (jeweils identischen) Ausschnitt und die Anordnung.

Stuttgarter Bezüge

Wer nun bei Roehr, Morellet, Mohr, Schoonhoven oder auch Astrid Schindler an die Stuttgarter Galerie Mueller-Roth denkt, bei Namen wie Frank Badur an die Galerie Michael Sturm oder bei Annett Zinsmeister an die Galerie 14-1, spürt die besondere Intensität des Ausstellungsthemas in dieser Stadt. Umso mehr, als unter Leitung von Renate Wiehager die Daimler-Kunstsammlung international zur ersten Adresse für Positionen aus der Minimal- und Konzeptkunst avancierte. So entwickelt sich denn auch aus dem Kunstmuseum Stuttgart heraus ein Kunstfaden, der bis in das Weinhaus Huth an den Potsdamer Platz in Berlin reicht und sich dort in der aktuellen Schau nicht zuletzt besonders eng um die Werke der Willi-Baumeister-Schülerin Charlotte Posenenske wickelt.

Simone Schimpf hat gehörig etwas angestoßen. Und wer weiß, ob man nun in Stuttgart nicht doch auch endlich aufmerksam wird auf den Schatz, den die Galerie Achim Kubinski in den lange aufgegebenen Räumen in der Olgastraße 109 hinterlassen hat. Aus Rasterfahndungssicht im Grunde ein Projektraum der Schau – mit einem Boden aus Rasterplatten von Imi Knoebel und einer den Fenstern eingeschriebenen Linienrhythmik von Daniel Buren.

Die Kapitel der Schau – „Ins Raster passen“, „Das mediale Raster“, „Durchs Raster fallen“ und „Rasterfahndung“ – suggerieren eine thematische Aufteilung. Der Orientierung innerhalb eines sich über beide Ebenen des eigentlichen Sammlungsbereichs des Kunstmuseums erstreckenden Raster-Panoramas mag die Kapitelbenennung helfen, zugleich aber lohnt es sich gerade in dieser Ausstellung, sich immer wieder gegenläufig zu bewegen. Nichts wirkt hier, als ob die Schwäche einer wenig Halt gebenden Innenraumarchitektur durch Kunst abgemildert werden soll. Folgerichtig stattdessen noch die Sperre, die Eva Grubinger an der engsten Stelle im Untergeschoss bereithält: ein Wartelabyrinth, das wir nur zu gern durchqueren, um zu den Fotoarbeiten von Günther Förg (einstmals zuerst von der Galerie Ursula Schurr in Stuttgart vorgestellt) und zu einem Architektur-über-Architektur-Dialog von Annett Zinsmeister zu kommen. Wer den Fahrstuhl zwischen Erdgeschoss und Untergeschoss benutzt, durchfährt einen DDR-Plattenbau, Hoffnungsträger einst, über das Raster der Wohnungsnot im sozialistischen Deutschland Herr zu werden.

Überraschende Störfaktoren

Das Raster kann Heiteres, Strukturelles an sich, Ordnendes und Auslösendes provozieren. Aber auch Poetisches – wie nicht nur die immer noch begeisternden Arbeiten von François Morellet zeigen, sondern auch ein eigener Raum, den Katharina Hirnsberg unter dem Titel „mitten“ mit Stahlseilen und Rundformen aus rot gefärbter, gehärteter Knetmasse realisiert hat. Und die Allianz von Spiel und Poesie? Bietet Beat Zoderer mit ebensolcher Souveränität wie vor 40 Jahren schon Sigmar Polke. Der Vorreiter des Pop über Pop darf in dieser Schau so wenig fehlen wie Gerhard Richter, der 1973 „1024 Farben“ in kleinen Quadraten auf eine Leinwand brachte.

Gerade in der Begegnung mit den Stars der Branche – Roy Lichtensteins „Modern Painting with Wedge“ von 1967 belegt überzeugend die Bedeutung des Rasters für die US-amerikanische Pop-Art (deren Rasterfreude die Siebdruckkünste von Luitpold Domberger in Stuttgart munter beflügelten) – bestätigt sich eine besondere Qualität dieser Schau. Gerade, wenn man glaubt, das Prinzip erkannt zu haben und sich vorgetäuscht lässig weiterbewegen zu können, überrascht ein Störfaktor. Zu den eindrücklichsten zählt ein Film von Karl Otto Götz, der die strukturellen Prinzipien bildnerischer Produktion an sich zum eigentlichen Thema macht. Der Maler des Gestus als Konzeptueller – solche Begegnung wäre häufiger begrüßenswert, um mit Blick auf die deutsche Malerei der 1950er und 1960er Jahre manche Textunsinnigkeit zu beenden.

Jürgen Klauke (auch er in Stuttgart über die Galerie Klaus Gerrit Friese mit fester Verortung) ist es vorbehalten, mit gerasterten Porträts vermummter Gestalten wandhoch das titelgebende Kapitel „Rasterfahndung“ zu eröffnen. Klaukes Gesichter unterlaufen unsere Einordnung von gut, böse, gefährlich oder einladend. Und spätestens hier entwickelt die Schau einen Inhaltsfaden, der sich bis zur (aktuellen) 7. Berlin-Biennale zieht, bei der das Künstlerkollektiv New World Summit dem Raster der guten Staaten (und der guten Fahnen) das Raster vorgeblich terroristischer Gruppierungen (und böser Fahnen) entgegenhält und in der Umkehrung des Rasters die Utopie eines bisher undenkbaren Parlaments präsentiert.

Mit „Rasterfahndung“ ist dem Kunstmuseum Stuttgart ein Coup im besten Sinn gelungen, eine spektakulär unspektakuläre Schau.