Zeugnisse einer Ära – Götz Adriani umgeben von Plakaten zu Ausstellungen in der Kunsthalle Tübingen Foto: Kunsthalle Tübingen

Jahrzehnte schien es eine untrennbare Allianz zu sein: Götz Adriani und die Kunsthalle Tübingen. Und jetzt? Packt Adriani zusammen. Für neue Wege? „Stuttgarter Nachrichten“-Autor Nikolai B. Forstbauer hat nachgefragt.

Stuttgart - „Ich räume“. Die Antwort ist mehr eine Ansage. Wie stets bei Götz Adriani. „Möbel und Bücher.“ Da zieht einer aus. Nach 46 Jahren.

Rückzug mit Paukenschlag

Geht das überhaupt – die doch erst durch die erwirtschafteten Gelder aus eigenen Ausstellungserfolgen ermöglichte Stiftung Kunsthalle Tübingen ohne ihren Vorsitzenden Götz Adriani? „Ich verzichte auf alle Ämter“, sagt Adriani – „als Vorstand und auch auf lebenslang zugesichterte Kuratoriumsmitgliedschaft.“ Nüchtern hört sich das an, doch die Botschaft ist eindeutig: Adriani entscheidet selbst, was er wann wie macht. Auch und gerade in einem Jahr der Irritationen, das doch – nach umfassender Sanierung und baulicher Erweiterung – als Jahr des Neustarts ausgerufen war.

Holger Kube Ventura hatte man zugetraut, der Wiedereröffnung der Kunsthalle Profil zu geben. Doch Kube Ventura kündigt nach nur wenigen Monaten seine Position als künstlerischer Vorstand, beklagt mangelnde Kompetenzen. Umgekehrt sieht Adriani seine über Jahre und Jahrzehnte (zusammen-)gewachsene Mannschaft diskreditiert.

Neustart mit Verzögerung

Der Neustart beginnt nun mit Verzögerung. Nicole Fritz kommt als neue Direktorin und zugleich alleiniger Vorstand der Stiftung Kunsthalle Tübingen mit den Lorbeeren, das bis dahin kaum bekannte Kunstmuseum Ravensburg zum „Museum des Jahres“ gemacht zu haben. Sie gilt als Ausstellungsmacherin, die auf Abgrenzungen jedweder Form verzichtet. „Wir freuen uns sehr auf die Zusammenarbeit“, sagt Hans J. Baumgart, Vorsitzender des Kuratoriums der Stiftung Kunsthalle Tübingen.

Und Götz Adriani? 77 ist der im November 1940 in Stuttgart Geborene jetzt – doch er ist keiner, der sich über die Jahre groß verändert. „Ich arbeite an einer umfassenden Museumsausstellung zur deutschen Kunst der 1960er Jahre“, sagt er. „2019“ soll sie zu sehen sein – mit Werken von Sigmar Polke, Gerhard Richter, Anselm Kiefer und Georg Baselitz. Wo? „Sie werden überrascht sein“.

Immer direkt im Dialog

Und dann dreht Adriani die Rollen um: „Raten Sie mal, wie viele deutsche Künstler vor den Genannten zu ihren Lebzeiten international bekannt geworden sind“. Die Auflösung? „Albrecht Dürer, Holbein der Jüngere, Adam Elsheimer“, nennt Adriani zuvorderst. Eine Provokation?

Hinweis eher darauf, manche Erfolge jüngerer Epochen nicht überzubewerten. Und Hinweis darauf, wie ernst es ihm mit einem solchen Satz ist: „Ich habe Lust darauf, große Museumsausstellungen zu machen“.

Distanz als Schutz?

Die Arme vor der Brust gekreuzt, immer ein wenig reserviert wirkend – so kennt man Götz Adriani. Jedoch, es gibt auch andere Momente, Augenblicke, in denen er das Publikum anekdotenreich neugierig macht, tief in die Welt der Kunst einzutauchen. Ist er sich selbst bis heute in diesen Momenten nicht geheuer? Fast scheint es so, wenn er jetzt sagt: „Ich bin alles andere als ein guter Vermittler. Didaktik hat mich für mich persönlich nicht so interessiert.“

Ist es da kein Widerspruch, dass gerade Adrianis Kataloge zu jenen gehören, die in all den Tübinger Erfolgsjahren von den Käufern nicht nur stolz ins Regal gestellt wurden? „Ich habe immer darauf Wert gelegt, dass die Kataloge wissenschaftlich fundiert sind“, wehrt Adriani ab. Und doch ist es ja so: Klare Sprache, am Werk orientierte Analyse und doch immer wieder auch begründetes Neuland bringen Spannung auch in schwierigere Zusammenhänge. Bis hin zur Analyse des Zusammenhangs zwischen der Erfindung der Megastadt Paris und der Erfindung der künstlerischen Moderne in „Bordell und Boudoir“, 2005.

Start 1971 mit Willi Baumeister

Einsatz für Polke und Beuys

Zurück also: Gerade 30-jährig übernimmt Adriani 1971 die damals neu gegründete und gerade eröffnete Kunsthalle. Der Bau ist eine Stiftung von Paula Zundel und Margarete Fischer-Bosch, den Töchtern Robert Boschs, im Gedenken an den Maler Georg Friedrich Zundel. „Der Anfang war nicht leicht“, erinnert sich Adriani. Seinerzeit aktuellen Kunstpositionen gilt nach dem Start mit Willi Baumeister zunächst sein Interesse – Tübingen erlebt Ausstellungen zum Werk von Sigmar Polke, Joseph Beuys, aber auch des jungen Stuttgarter Malers Ben Willikens.

Wie Adriani den Unternehmer und Sammler Karl Ströher erlebt

Die aktuelle Ausrichtung ist folgerichtig, erlebt Adriani doch zuvor im Hessischen Landesmuseum Darmstadt einen internationalen Antritt mit. 1966 lernt er Karl Ströher kennen, Eigner des Wella-Konzerns und Sammler von Werken amerikanischer Pop-Art wie Roy Lichtenstein und Andy Warhol sowie deutscher Künstler wie Joseph Beuys und Franz Erhard Walther.

2012 erheitert Götz Adriani als Gast der Gesprächsreihe „Über Kunst“, Veranstaltung unserer Zeitung in der Stuttgarter Galerie Klaus Gerrit Friese, 150 Besucher mit einer Erinnerung: „Eine meiner ersten Begegnungen mit Ströher war eine Fahrt ins Rheinland. Abgeholt wurde ich von einem Mercedes 600 mit Chauffeur. Zur Mittagszeit teilte Ströher einen Apfel. Das war die einzige Verpflegung an diesem Tag.“ Ist es nur eine Anekdote? Oder doch Hinweis auf einen Aspekt, der für Götz Adriani bis heute zentrale Bedeutung hat: Haltung im Sinn der Konzentration auf die Kunst-)Sache.

Vertrauen begründet Freundschaften

Gibt es auch den anderen, den privaten Götz Adriani? „Freundschaften sind für ihn wichtig“, sagt einer, der es wissen muss. Der Düsseldorfer Galerist Hans Mayer kennt Adriani seit Ende der 1960er Jahre, ist Wegbegleiter im besten Sinn. Wie auch andere. Wenn das Vertrauen stimmt. Und doch muss jeder, der mit Götz Adriani spricht, zu jeder Zeit auf unerwartete Schärfe reagieren können. „Was sagen Sie zu . . .?“, „Haben Sie die Ausstellung von ... gesehen?“. Das sind keine Fragen um des Dialogs Willen. Da erwartet einer Kenntnis und klare Positionen.

Das Wunder von Tübingen

Ausstellungen gegen die eigene Zeit

Inmitten eines Ende der 1970er und mehr noch Anfang der 1980er Jahre explodierenden Markts der internationalen Gegenwartskunst geht Götz Adriani auf Gegenkurs zur eigenen Generation. „Ach“, sagte der später viel Umworbene dazu immer wieder gern, „mich hat diese Kunst einfach interessiert.“ „Diese Kunst“, das waren zunächst Aquarelle von Paul Cézanne (1839-1906). In ihrer Kühle radikale Bildwelten. Dass hier Außergewöhnliches zu sehen sei, spricht sich 1982 schnell herum.

Am Ende steht eine für die Zeit unerhörte Zahl: 140 000 Besucher. Fortan bleibt Adriani der französischen Moderne treu – und das Publikum der Kunsthalle Tübingen. Bis hin zu jenen Wochen, an denen sich 1993 zur Begegnung mit den Bildern von Cézanne und 1996 zum Werk von Auguste Renoir lange Schlangen bilden. Jeweils mehr als 400 000 Besucher werden am Ende gezählt.

Götz Adrani als gefragte Marke

Begehrlichkeiten werden geweckt, die Erfolge scheinen kopierbar. Ein Fehler, warnt Adriani – und wird selbst ein Gehandelter. Kein Kunst-Chefposten, der ihm nicht angetragen wird. Doch einmal nur scheint ein Wechsel denkbar – auf den Stuhl des Generaldirektors der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen. Adriani beendet das Werben auf seine Art. Ohne viel Worte. Das nur: „In Tübingen bin ich ein freier Mann.“ Frei genug auch, um auf höchster Ebene zu beraten.

Auch Kanzlerin Angela Merkel auf einer Adriani-Bühne

Wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel im Berliner Reichstagsgebäude und im Kanzleramt vor die Kameras tritt, ist im Hintergrund meist ein großformatiges Bild deutscher Maler zu sehen – Werke von Gotthard Graubner, Fred Thieler oder auch Gerhard Richter. Es sind Arbeiten, die in den Jahren 1994 bis 1999 ihren Platz fanden – unter der so zurückhaltenden wie sorgsamen Regie von Götz Adriani als Berater des Kunstbeirates des Deutschen Bundestages.

Adriani ist auch frei genug, als Gründungsdirektor des Museums für Neue Kunst in Karlsruhe von 1999 bis 2004 das in Stuttgart gescheiterte Projekt eines Sammlermuseums fortzuschreiben und von 2004 an das Profil des Museums Frieder Burda in Baden-Baden zu prägen.

Kunsthalle Tübingen zukunftsfähig gemacht

Und Tübingen? Die Ausstellungsverantwortung liegt von 2006 an in anderen Händen, Adriani arbeitet als Vorsitzender der aus den Geldern der Erfolgsjahre von ihm gegründeten Stiftung Kunsthalle Tübingen auf ein neues Ziel hin: die Kunsthalle strukturell zukunftsfähig zu machen. Den Anspruch löst er ein.

Gibt es ein Fazit? „Auf die Kunsthalle bezogen?“, fragt Götz Adriani – und sagt dann: „Ich bin durchaus auch stolz“. Und schickt ein knappes „aber jetzt muss ich wirklich weitermachen“ hinterher.