Standbild aus Jan Peter Hammers Video „Tilikum“ 2013-2015 Foto: Hammer

Die deutschsprachigen Kunstkritiker sind sich einig: Die „Ausstellung des Jahres“ ist „Die Bestie und der Souverän“ im Württembergischen Kunstverein Stuttgart. Diese Themenausstellung wird dort noch bis zum 17. Januar gezeigt.

Stuttgart - Immer wieder zieht der Orca eine Frau unter Wasser, drückt sie gegen die Unterwasserscheiben. Manche Besucher scheinen ratlos, manche gestikulieren, noch mehr fotografieren. Ein öffentlicher Tod. Ein Tod in SeaWorld in Florida. Tilikum heißt der Orca, „Tilikum“ heißt der Videofilm des gebürtigen Kirchheimers Jan Peter Hammer.

Tilikums Tat ist eine Wiederholungstat – und sie scheint zuletzt logisch, ein Sekundenausbruch aus der Isolation, dem das Tier immer wieder ausgesetzt ist. Doch Hammer lenkt den Blick nicht auf die Bedingungen, unter denen die Wale in den SeaWorld-Unterhaltungsparks gehalten werden, sondern weit zurück in die 1950er und 1960er Jahre. Es ist ja das US-Militär, das seinerzeit Wissenschaftler-Teams bis dahin ungekannte Forschungs-Möglichkeiten erschließt. Bis hin zu experimentell „vertieften“ Denkszenarien, über LSD-Konsum in eine übergeordnete Realität von und zwischen Mensch und Tier eintreten zu können.

Konzepte und Anlagen für die Unterhaltung

Das Militär bezahlt Forschung mit öffentlichen Einsprengseln – Besucher erleben jeweils einzelne Delfine mit je einzelnen Forscherinnen und Forschern. Aus Sicht der Forschung im Dialog. Der aber erweist sich bald als wenig gewinnbringend – die Militärindustrie verliert die Lust am Glauben an eine neue Lebensform unter Wasser. Der Weg zu Tilikum aber beginnt erst. Die Unterhaltungsindustrie übernimmt Konzepte und Anlagen, entwickelt sie weiter. Hier zeigt sich: Es gibt nicht, wie ursprünglich angenommen, ein Nebeneinander von Souverän und Bestie – der Souverän ist die Bestie.

Kann aber die Kunst sie zähmen? Soweit würden Iris Dressler und Hans D. Christ, Direktoren des Württembergischen Kunstvereins Stuttgart, kaum gehen. Und doch ist gerade diese Ausstellung, ist gerade „Die Bestie ist der Souverän“ vor allem dies: eine Frage.

Kann daraus eine These werden? Unbedingt, wenn man die Ausstellung in einem größeren Zusammenhang sieht. Linien führen zu dem Kunstvereins-Projekt „Ein umherschweifender Körper. Sergio Zevallos in der Gruppe Chaclacayo“ (2014), mehr noch aber zu der Schau „Der Ungeduld der Freiheit Gestalt zu geben“ (2013).

Ökonomien der Schuld

„Die Bestie ist der Souverän“ skizziert entsprechend einen Forschungszwischenstand. Und nicht von ungefähr heißen die zentralen Kategorien denn auch „Das Heilige und der unangemessene Gebrauch des Heiligen“, „Ökonomien der Schuld und alternative Ökonomien“, „Dissidente Körper: Wider die Ordnungen von Spezies, Geschlecht, Sexualität, Normativität, Unversehrtheit …“ sowie „Moderne Institutionen in der Krise, Kritik, Auflösung und Neubestimmung“.

An welcher Stelle, in welchen Momenten aber verwandelt sich nun der Souverän, dem diese Themen durchausbewusst sind, der mit ihnen spielt, erwartet unerwartet in die Bestie? Und – stellt der Souverän als Bestie vielleicht gar die identischen Fragen wie in jenen Momenten, da er sich um Kontrolle der Bestie bemüht, um Kontrolle um das Der Souverän und die Bestie? Das Ausstellungsprojekt, das Iris Dressler und Hans D. Christ gemeinsam mit Paul B. Preciado und Valentín Roma erarbeiteten, wurde so unerwartet wie konsequent selbst Teil des Fragepanoramas.

Kurz vor Eröffnung der Schau im Museu d’Art Contemporani de Barcelona entschied dessen Direktor, „dass eines der Kunstwerke nicht angemessen für eine Präsentation in diesem Museum sei und forderte dessen Entfernung“, summiert Hans D. Christ. Und: „Es handelte sich um eine Skulptur der österreichischen Künstlerin Ines Doujak, die Teil eines langjährigen Projektes zu Fragen der (neo)kolonialen Kontexte der Textilproduktion ist. Neben zahlreichen anderen Referenzen, lässt sich die Skulptur, die zuvor auf der São Paulo-Biennale zu sehen war, auch als eine Karikatur des spanischen Ex-Königs lesen“.

Der Direktor musste zurücktreten, die Kuratoren Preciado und Roma wurden entlassen. Und die Skulptur? Ist bei ihrem Stuttgarter Gastspiel in all ihrer Unaufgeregtheit ebenso unaufgeregt präsentiert. Wenig hat die Arbeit, die reichlich Bezüge zur älteren wie zur jüngeren Kunstgeschichte aufweist, mit jenen Abbildungen zu tun, die mutmaßlich wesentlich zum Sturm in Barcelona geführt hatten. Dies weist auf eine Schwäche der Ausstellung hin: Die Aufladung mit Bedeutung wird eher hingenommen als hinterfragt.

Für den Kroaten Damir Ocko sind all dies nurmehr theoretische Fragen. Seine Videoarbeit „The Third Degree“ zeigt Aufnahmen der Rücken junger Frauen, die übersät sind mit Narben von Verbrennungen. Spiegelscherben bilden die Kulisse für die Aufnahme der Rückenansichten – ein Kaleidoskop bewusster Zerstörung entsteht, der Souverän, unter welcher Flagge auch immer, zeigt einmal mehr das Gesicht der Bestie.

Ein begehbares Archiv

„Die Ausstellung ‚Die Bestie ist der Souverän’ untersucht auf unorthodoxe, nonkonformistische und multiperspektivische Weise Formen von Wirkungskräften hegemonialer Macht“, urteilte die Jury der deutschen Sektion des internationalen Kunstkritkerverbandes.

Alles richtig. Im Vergleich der Projekte des Württembergischen Kunstvereins Stuttgart aber bleibt „Die Bestie ist der Souverän“ eigentümlich statisch. Das begehbare Archiv, das Iris Dressler und Hans D. Christ wieder einmal (und mit erneut auch in der Präsentation bezeugten bemerkenswertem Respekt vor der jeweiligen künstlerischen Position) entwickelt haben, bleibt eigentümlich selbstbezogen. Ein Einwand jedoch, der die Stringenz dieser unbedingt lohnenswerten Ausstellung nicht berührt. Wenn überhaupt, mag die Perfektion des Ganzen die mögliche Kraft des Zusammenwirkens schmälern.

Der französische Philosoph Jaques Derrida lieferte den Impuls für die Frage nach dem Verhältnis zwischen Souverän und Bestie. „Die Bestie und [et] der Souverän, die Bestie ist [est] der Souverän“, schreibt Derrida 2002, „so würde sich unser Paar ankündigen, ein Paar, ein Duo, ein Duell gar, aber auch ein Bund, fast eine Vermählung …“.

Wie aber wird der Souverän nun zur Bestie? Eine mögliche Antwort könnte sein: Indem er zum Wächter der Isolation wird. Der Orca Tilikum hat seine Isolation durchbrochen. In tödlicher Konsequenz.

Ort Zu sehen ist die Themenausstellung „Die Bestie ist der Souverän“ im Vierecksaal des Württembergischen Kunstvereins Stuttgart (Kunstgebäude am Schlossplatz).

Thema Die Schau beschäftigt sich „mit den Konstruktionen des politischen Souveräns in den westlichen Denktraditionen“. Im Vordergrund stehen dabei künstlerische Praktiken, die Souveränität in bestimmten Bereichen „infrage stellen, umkehren oder auflösen“. Vor allem vier Themenbereiche werden untersucht: „Das Heilige und der unangemessene Gebrauch des Heiligen“, „Ökonomien der Schuld und alternative Ökonomien“, „Dissidente Körper: Wider die Ordnungen von Spezie, Geschlecht, Sexualität, Normativität, Unversehrtheit …“, „Moderne Institutionen in der Krise, Kritik, Auflösung und Neubestimmung“.

Öffnungszeiten Bis zum 17. Januar 2016, Di bis So 11 bis 18 Uhr, Mi 11 bis 20 Uhr. Mehr unter: www.wkv-stuttgart.de. (StN)