Erstrahlt in neuem Glanz: Altstadt von Breslau Foto: dpa

Breslau bedeutet Erinnerung. Auch wenn nur wenige Vorkriegsbewohner die heutige Stadt kennen. Aber Breslau ist verwurzelt im Bewusstsein der Deutschen. Obwohl es seit 70 Jahren zu Polen gehört und Wroclaw heißt. Nun ist Schlesiens Metropole Kulturhauptstadt Europas – ein Porträt.

Breslau - Einschusslöcher an der Außenmauer der Universitätskirche zeugen noch vom Häuserkampf des Frühjahres 1945, an dessen Ende die Deutschen ihre zur Festung erklärte östliche Großstadt Breslau der Roten Armee übergeben mussten – gut zwei Jahrhunderte nachdem Preußen sie im ersten Schlesischen Krieg 1741 von den Habsburgern erobert hatte.

Deutsche Vertriebene und kommunistische Nachkriegsherrscher haben nach 1945 viel Falsches über Breslau behauptet. Richtig ist, dass Breslau – im Herzen Europas gelegen – schon im Mittelalter ein Ort des Miteinanders verschiedener Völker war. Im Jahr 1186 heiratete die aus Bayern stammende Hedwig von Andechs den schlesischen Herzog Heinrich I., einen slawischen Piasten, der über große Teile Polens regierte. In der Folge kamen viele Deutsche nach Schlesien und Breslau, die hier mit Polen und Tschechen friedlich zusammenlebten. In ihren Ländern wird die heilige Hedwig noch heute als Schutzpatronin Schlesiens verehrt.

Das moderne Breslau prägen Menschen wie Zbigniew Mackow. Seine Eltern kamen aus dem jetzigen Litauen. Sie waren, wie fast alle Nachkriegsbewohner Breslaus, selbst Vertriebene. Viele von ihnen stammten aus den einst polnischen Städten Vilnius und Lemberg, die sich die Sowjetunion einverleibt hatte. Mackow, Jahrgang 1969, ist ein bekannter Breslauer Architekt und Kurator seines Fachs im Kulturhauptstadtprogramm. Seine Planung verwandelte das Kaufhaus Renoma 2009 in eine glitzernde Shopping-Mall. 1930 für die jüdische Familie Wertheim errichtet, beeindruckt seine Fassade noch immer als Musterbeispiel neuzeitlicher Baukunst.

Ein noch erhaltenes Meisterwerk ist das von Hans Scharoun entworfene Ledigenheim

Über Herrschaftsepochen hinweg gibt es nach Mackows Worten einen „speziellen Geist der Breslauer Architektur“, dem der 47-Jährige folgt. Die 1913 als weltweit größter freitragender Beton-Kuppelbau ihrer Zeit errichtete Jahrhunderthalle inspiriert ihn ebenso wie die nahe gelegene WuWa-Siedlung mit Gebäuden im Stil der Moderne. Sie ist eine von sechs Mustersiedlungen, die der Deutsche Werkbund in den 1920er und 1930er Jahren realisierte. So wie auch die Weißenhofsiedlung in Stuttgart.

Planer und Architekten zeigten mit diesem Konzept Lösungen für Probleme wie Überbevölkerung in Städten und Möglichkeiten zur Verbesserung der Lebensqualität auf. Der Name WuWA für die Breslauer Siedlung steht als Kürzel für die „Wohnung und Werkraum Ausstellung“ des Jahres 1929, in deren Rahmen die Gebäude errichtet wurden. Ein noch erhaltenes Meisterwerk ist das von Hans Scharoun entworfene Ledigenheim am Rande des Scheitniger Parks – heute ein Hotel.

Nach Krakau ist Breslau die zweite polnische Stadt, die sich Kulturhauptstadt Europas nennen darf. Und anders als die im Krieg unversehrt gebliebene Touristenmetropole an der Weichsel ist die Stadt an der Oder eine Boomtown geworden. Viele High-Tech-Firmen haben Breslau für sich entdeckt, auch Siemens gehört dazu. Da treffen Leute wie Mackow mit Forderungen nach Raum für Schönheit und Lebensqualität den Zeitgeist. Abgeleitet aus den Werkbund-Siedlungen, denen sich eine eigene Kulturhauptstadt-Ausstellung widmet, haben Stadtentwickler ihr Projekt „WuWA II“. Es soll im Nordwesten Breslaus entstehen. Noch gibt es nur Pläne und Modelle, aber bald soll gebaut werden. Und es soll ein Beispiel dafür werden, wie es sich in ganz Polen besser leben ließe: hell und freundlich, mit guter Nahversorgung, Nachbarschaft und sozialer Infrastruktur. Auch Nachhaltigkeit und vielfältige Wohnformen haben sich die Planer zum Ziel gesetzt.

Im Dezember werden im Musikforum die diesjährigen Europäischen Filmpreise verliehen

Die Wirklichkeit sieht auch in Breslau noch anders aus, vor allem in den riesigen Plattenbausiedlungen aus kommunistischer Zeit. Nicht jeder Bürger ist begeistert von den Kulturhauptstadt-Aktivitäten. Jurastudent Krzysztof zum Beispiel hält die Kosten für viel zu hoch und hätte es lieber gesehen, wenn das Geld in den Ausbau von Straßen, Brücken und Kanalisation gesteckt worden wäre. 120 Millionen Euro hat allein das Nationale Musikzentrum gekostet – ein dunkler, kastenförmiger Neubau am Rande der Altstadt mit Tiefgarage. Aber ohne Ticket für ein Konzert nicht zu besichtigen. So bleibt die neue Heimat ihres Philharmonie-Orchesters vielen Breslauern verborgen – in einem Bau mit sieben Stockwerken, der 15 Meter tief in die Erde ragt. Das freilich zugunsten einer überragenden Akustik, wie Fachleute betonen. Die Wiener Philharmoniker, das London Symphony Orchestra und der Pianist Lang Lang werden sie bei ihren Auftritten in diesem Jahr testen.

„Seit Jahren promotet sich die Stadt sehr gut“, räumt denn auch der junge Kritiker Krzysztof ein, der sich zusammen mit Kommilitonen eine Pause im Fußgängerbereich zwischen Rathaus und Universität gönnt. Rund 130 000 Studenten gibt es in Breslau, viele zieht es vor allem abends in die Straßen und Lokale der Altstadt. Dort ist es lebhaft und multikulturell. Während der Marktplatz mit dem gotischen Rathaus vor allem von Touristen angesteuert wird, trifft man jüngeres Publikum vornehmlich im ehemals jüdischen Viertel zwischen den Straßen Kazimierza Wielkiego (Karlsplatz) und Wlodkowica (Wallstraße). Hier befindet sich nicht nur die renovierte Synagoge „Zum weißen Storch“, um die sich eine Stiftung der aus Norwegen stammenden jüdischen Sängerin Bente Kahan kümmert. Hier gibt es auch die renovierten Pokoy-Höfe (ähnlich den Hackeschen Höfen in Berlin) und das größte Multiplex-Kino Polens, das künstlerisch wertvolle Filme zeigt („Nowe Horyzonty“), für die Namen wie Roman Polanski, Andrzej Wajda oder Agnieszka Holland stehen. Apropos Kino: Im Dezember werden im Musikforum die diesjährigen Europäischen Filmpreise verliehen.

Der Stadt ist zu wünschen, dass ihre Geister den Ungeist des Nationalismus vertreiben, der Polen neu erfasst hat

Zum Start des Breslauer Kulturhauptstadtjahres dominiert die Performance-Kunst. Am Sonntag machten sich vier große Menschenzüge, die die Stadtgeister „Wiederaufbau“, „Innovation“, „Hochwasser“ und „Religionsvielfalt“ symbolisieren, aus weit entfernten Stadtteilen auf den Weg zum Rathausplatz und vereinten sich dort unter der Regie des britischen Kurators Chris Baldwin – als eine „poetische Metapher des aufkeimenden Breslau – des Mikrokosmos Europa“, wie es offiziell heißt. Dass ihre Geister den Ungeist des Nationalismus vertreiben, der Polen neu erfasst hat, ist der Stadt zu wünschen.

Denn so wie Ende November, als Rechtsextreme auf dem Rathausplatz die lebensgroße Puppe eines Juden als Symbol für das ihnen verhasste Fremde verbrannten, darf Breslau international nicht wieder Schlagzeilen machen. Darin ist sich Bürgermeister Rafal Dutkiewicz, der die Demonstranten angezeigt hat, mit dem Historiker Krzysztof Ruchniewicz einig. Europas Kulturhauptstadt zu sein bedeute schließlich „nicht nur eine Ehre, sondern auch eine Verpflichtung“, mahnt Ruchniewicz, der an der Breslauer Universität das Willy-Brandt-Zentrum für Deutschland- und Europastudien leitet.