Heinrich Steinfest (links) signiert Tischtennis-Bälle, Eckhard Ernst (rechts) freut sich zusammen mit dem Publikum Foto: Georg Linsenmann

Beim Platzgespräch im West-Quartier präsentiert der Schriftsteller und Künstler Heinrich Steinfest eine literarische Hommage an den Bezirk.

S-West - Das offene Format der Platz-Gespräche im Stuttgarter Westen in der Elisabethenstraße hat was. Unterm Dach des Forums lebendiger Westen wird mal streng über Stadträume und Plätze diskutiert, zumeist mit Blick auf den Bismarckplatz. Mal werden Ideen lanciert wie zuletzt eine experimentelle Verkehrsberuhigung im Vorfeld des noch etwas fernen Umbaus des Platzes. Oder es wird die Fantasie beflügelt für temporäre Bespielungen. Sei es mit einem „grünen Wohnzimmer“, seien es Planschbecken für Kinder an heißen Tagen. Doch auch fiktionale Umwege fürs Nachdenken über den Platz können reizvoll und ergiebig sein, wie jetzt ein literarisches Tischtennis-Spiel mit Heinrich Steinfest.

Ein Match mit einem längeren Vorspiel. Genau genommen reicht es ein volles Jahr zurück. Denn als das Familien-Trio Christine, Clemens und Eckhard Ernst das Buch „Gründerzeit: Der Stuttgarter Westen in historischen Fotografien“ vorlegte, wurde der aus Wien kommende, seit Langem im Quartier lebende Literat Heinrich Steinfestgebeten, zur Präsentation im Stadtmuseum einen Text zu fabrizieren. Das Interesse an der Sache war dann so groß, dass angesichts eines 250 Köpfe starken Auditoriums die nun realisierte Idee aufkam, den Text einmal in unmittelbarem Kontakt zum Genius loci vortragen zu lassen.

Eine Schulung der Wahrnehmung fürs allzu Bekannte

Steinfest ließ sich nicht zweimal bitten und spendierte den Platzgesprächen nun einen Text, der schon im Titel neben sprachlichem Ehrgeiz auch eine Hommage an den Westen verhieß: „Tischtennis im Westen oder das Glück, einen Tischtennisball, der am Vogelsang verlorenging, auf dem Bismarckplatz wiedergefunden zu haben“. Während man nun noch einmal mit dem Ich-Erzähler fröstelnd am Tiroler Skihang steht, wird noch eine Spur deutlicher, was der Text in seinem Kern darstellt: Eine Schulung der Wahrnehmung fürs allzu Bekannte. Denn im durchdachten dialektischen Verhältnis von Nähe und Ferne wird die partielle Blindheit für das nur scheinbar Vertraute erst bewusst.

Eine Wahrnehmungsblindheit, die in der biografisch getönten Erzählung am Beispiel des Hauptbahnhofes verdeutlicht wird, wo die drohenden Eingriffe im Zuge der „Stuttgarter Bahnhofskomödie“ nun wie ein Blitz einschlagen: „Es brauchte höchste Erregung, um den Bahnhof endlich einmal im Stehen zu betrachten und nicht im Vorbei- und Hindurchlaufen in halber Bewusstlosigkeit“.

In der Helligkeit des Bewusstseins also geht der Erzähler durchs Quartier und schafft so, den Gründerzeitband als Inspirationsquelle zur Hand, im Brückenschlag über die Zeiten manch plastische Szene und Vergegenwärtigung. Steinfest erweist sich dabei als geborener Beobachter. Etwa, wenn er ein autofreies Foto von 1909 in ironischer Tönung abgleicht mit der gegenwärtigen Symbiose von Mensch und rollender Maschine. Oder wenn er der Geschichte eines Gebäudes nachspürt, in dem sich einst die Bismarck-Apotheke befand, nun als griechisches Restaurant genutzt.

Mehr Gefühl schadet nie

Mehr und mehr wird so das Platz-Areal zu einer Art Salon, an dessen Rand der Erzähler in seinem Lieblingscafé sitzt und als Flaneur im Geiste die aktuelle Szenerie beobachtet oder historische Verluste resümiert, etwa den eleganten Turm der kriegszerstörten Pauluskirche. Bis der Protagonist dann den oben verlorenen Pingpong-Ball unten wiederentdeckt, worauf er schwört, künftig mit „mehr Gefühl und Übersicht“ zu schmettern, „denn mehr Gefühl kann nie schaden“.

Ein Ball, den Eckhard Ernst dann mit viel Gefühl aufnimmt, als er bei seinem Lichtbildvortrag mit historischen Fotos durch den Westen führt. Elegant geschnippelt oder hübsch gelupft, geschmettert und couragiert verteidigt oder versteckt unter der Plattenkante hochgeschnitten, wobei selbst eine abwärts wandernde Schar von Diakonissen helfen kann, „denn die helfen ja immer“. Es hätte kaum gewundert, wenn danach nicht nur Steinfest, sondern auch Ernst darum gebeten worden wäre, reale Tischtennisbälle zu signieren. Als Krönung eines leichthändigen Spiels, das sehr unterhaltsam quer durch den Westen führte.