Die Entdeckung der Langsamkeit: Rudolf Loder vor seinen Rundwirkmaschinen, die Hektik einfach nicht ertragen Foto: Rieger

Andere haben sie längst verschrottet, doch ein Tailfinger Textilfabrikant produziert noch immer auf uralten Maschinen. Ein Berliner Designer hat daraus eine Kultmarke gemacht.

Albstadt - Wer 80 Euro für ein T-Shirt ausgibt, will nicht nur gute Qualität, sondern auch eine geile Geschichte. Als Dreingabe sozusagen, damit er mit Kennermiene ausholen kann, wenn jemand fragt: „Was hast denn du da an?“ Primark, Hollister und Co. haben da nicht viel zu erzählen.

Der Berliner Modedesigner Peter Plotnicki liefert eine solche Story. Seine Firma „Merz beim Schwanen“ handelt vom Abstieg der Textilindustrie auf der Alb. Sie berichtet von zwei Besessenen, die dort alte Maschinen laufen lassen, um darauf Opas Hemden zu produzieren. Und sie erzählt, dass solvente Kunden – darunter Brad Pitt – in den Metropolen der Welt gutes Geld hinlegen für die merkwürdigen Textilien aus dem Schwabenland.

Das Elend der Textilbranche

Auf junge, hippe Großstadtmenschen deutet in Tailfingen, wo Plotnicki seine Wäsche herstellen lässt, zunächst wenig hin. Der Teilort von Albstadt ist noch immer gezeichnet vom Niedergang der Textilbranche. In manchen Straßen steht jedes dritte Haus zum Verkauf, man sieht den Fassaden an, wann es hier bergab ging: in den 80er Jahren, als die Fernost-Konkurrenz den Kleidermarkt eroberte. „Damals fielen hier 10 000 Arbeitsplätze weg“, sagt Rudolf Loder, einer der wenigen Tailfinger, die noch Wäsche produzieren.

Nun ja, eigentlich sieht sein Fabrikchen eher aus wie eine Manufaktur aus Vorkriegszeiten. Auf schiefem Bretterboden stehen filigrane, mannshohe Maschinen, die beigefarbene Baumwollschläuche herstellen. „Wirken“ nennt man den Vorgang, wenn die Nadeln einen Faden in den anderen schlingen, Runde um Runde. Sie surren ganz gemächlich bei Loder, denn hohes Tempo vertragen die ledernen Antriebsriemen an der Decke nicht. „Ein kleines Motorle treibt die ganze Halle“, sagt der Schwabe und lacht.

Eigentlich ist er gelernter Metzger, aber irgendwann rutschte Loder in die Textilbranche hinein. 2003 dann, als auch die Tailfinger Firma Gota das Leben aushauchte, übernahm er die Marke samt Maschinen und Gebäude: „Die haben gesagt, kauf das ganze Zeug, dann haben wir’s los.“ Seither fertigt er lange Unterhosen. Und Plüschhemden. „So Sachen eben für den Krämermarkt“, sagt Loder.

Knopfleistenhemden

Dabei wäre es bis heute geblieben – hätte nicht vor ein paar Jahren Peter Plotnicki einen Bummel über einen Berliner Flohmarkt gemacht. Dort fiel dem Designer ein Stapel sogenannter Knopfleistenhemden in die Finger: Das sind dick gewirkte T-Shirts, die Arbeiter früher als Unterwäsche trugen.

Die Wäsche stammte aus Restbeständen des früheren Tailfinger Hemdenherstellers Merz – auch der längst abgewickelt. Die Fabrik stand einst beim Gasthaus Schwanen, daher „Merz beim Schwanen“.

Plotnicki, der auch das Schneiderhandwerk erlernt hat, war fasziniert von der Qualität und der Machart. Die Hemden hatten nämlich keine Seitennaht, sondern waren rundherum aus einem Stück, was die Arbeiter zu schätzen wussten: Sie scheuern nämlich nicht. „Ich dachte: So etwas möchte ich auch herstellen lassen“, sagt Plotnicki. Über mehrere Ecken kam er dann in Kontakt mit Loder, und die beiden waren sich bald einig: „Merz beim Schwanen“ soll wieder auferstehen.

Industrie 0.4 statt Industrie 4.0

Seither surren nun wieder mehr als 30 alte Rundwirkmaschinen vor sich hin, die jüngste stammt aus den 60er Jahren, die älteste ist mehr als 100 Jahre alt. Sie werkeln nicht nur an Maschen, sondern auch an einem weiteren Stück Tailfinger Textilgeschichte. „Alles ist bio, und alles wird in Deutschland gefertigt“, sagt Plotnicki: „Fassen Sie das mal an, wie schwer der Stoff ist.“

Genäht werden die Hemden, Hosen und Sweatshirts von Betrieben in der Nachbarschaft. Selbst die Etiketten stammen aus einer schwäbischen Stickerei. Und in die angehängten Zettel fädeln Behinderte in einer Albstädter Werkstatt die Kordeln.

Wie lange geht so etwas gut in Zeiten der Digitalisierung? Auf dem Weltmarkt reden derzeit alle von Industrie 4.0 – und da versuchen zwei ihr Glück mit Industrie 0.4?

Merz liegt im Trend

„Merz beim Schwanen ist kein Einzelfall“, sagt Jochen Strähle, Professor für internationales Modemanagement an der Hochschule Reutlingen. Regionalität, Nachhaltigkeit und Transparenz seien momentan die mit am meisten diskutierten Themen der Textilwirtschaft.

Nicht von ungefähr vertreibe Plotnicki seine Kollektion auch beim Edelversand Manufactum, merkt Strähle an: „Das sind alles Produkte, die eigentlich niemand mehr braucht und die technologisch altertümlich sind.“ Doch gleichzeitig stünden sie auch für Bodenständigkeit und Nachhaltigkeit: „Und sie sind ein modisches Statement.“

International seien jedenfalls viele Firmen auf diesem Weg, sagt der Fachmann für Textilwirtschaft. Viele Menschen wollten einfach genauer wissen, was sie am Leib tragen. Ein Stück Verlässlichkeit in turbulenten Zeiten, wenn man so will. Manche Unternehmen legten deshalb sogar ihre interne Kalkulation offen.

Allein in Japan kennt Plotnicki zwei Konkurrenten, die ebenfalls auf alten Wirkmaschinen produzieren. Aber natürlich kann man eine Geschichte wie die von „Merz beim Schwanen“ nicht einfach am grünen Tisch erfinden. Sie ist in Wirklichkeit ja noch viel verschlungener, denn der Markenname weckt bei alten Tailfingern eher die Erinnerung an altmodische Unterwäsche: „Das hätte ich mir auch nicht träumen lassen, dass ‚Merz beim Schwanen‘ mal topmodisch wird“, sagt Hans-Martin Haller, Landtagsabgeordneter und früherer OB von Albstadt.

Rentner als Mechaniker

Plotnicki achtet jedenfalls sorgsam darauf, dass sein Betrieb nicht ausschließlich in der Schublade „Knopfleistenhemden“ liegt. Das dürfe man nicht überstrapazieren, sonst komme man da nie wieder raus, sagt er. Mit T-Shirts und Hosen hat er die Produktpalette deshalb erweitert. Unsicher ist er allerdings, wie weit die alten Maschinen zwingend zur Merz-Story gehören. „Wir wollen uns möglichst nah an den alten Produktionstechniken bewegen“, verspricht er. Doch kann man damit wachsen? Noch ist in Loders alter Fabrik Luft nach oben. Er hat an die hundert alte Maschinen bei sich herumstehen, etwa 20 davon lassen sich noch aktivieren.

Inzwischen hat er auch wieder mehr Leute, die sie bedienen und warten können. „Anfangs mussten wir dafür Rentner aus dem Ruhestand holen“, sagt Loder. Mittlerweile gehört aber ein jüngerer Mechaniker zum Team, der das alles beherrscht. Ersatzteile kauft er, wo er sie bekommen kann: „Da rufen ältere Leute an und sagen: Wir haben da noch was.“

Ohnehin sind die Tailfinger froh, dass sich am Textilstandort überhaupt wieder etwas regt – nach anfänglicher Skepsis über die beiden exotischen Vögel. „Das tut dem Ort gut“, sagt Ex-OB Haller, „auch wenn das die Textilbranche hier natürlich nicht wieder aufleben lässt.“ Dafür wäre der Betrieb mit seinen zwölf Beschäftigten in Albstadt und sechs am Firmensitz Berlin dann doch zu klein. Den großen Reibach haben die beiden auch noch nicht gemacht. „Letztes Jahr hatten wir ein halbwegs ausgeglichenes Ergebnis“, sagt Plotnicki. Im nächsten Jahr soll die Gewinnkurve nach oben weisen.

Vitrine im Museum

Eines ist den beiden aber schon gelungen: Sie haben es mit „Merz beim Schwanen“ bereits ins Museum geschafft. In der aktuellen Stuttgarter Ausstellung des Hauses der Geschichte Baden-Württemberg zur Textiltradition im Südwesten („Auf nackter Haut“) ist ihnen eine Vitrine gewidmet.