Eine menschliche Eizelle unterm Mikroskop Foto: dpa-Zentralbild

Eine künstliche Befruchtung können sich nur Besserverdiener leisten.

Ulm - Der Druck in der Arbeitswelt steigt. Auch das ist ein Grund, warum immer weniger Frauen auf natürlichem Weg schwanger werden. Für die Wirtschaft ist Nachwuchsmangel eine Katastrophe. Die Beteiligung an den Kosten für eine künstliche Befruchtung aber wurde gedeckelt.

Berit F. sieht jeden Tag Sperma von acht verschiedenen Männern. Alles eine Frage der Gewöhnung, sagt sie. "Bei meiner vorigen Arbeitsstelle habe ich auch Kot untersucht." Seit November arbeitet sie im Labor des Kinderwunschzentrums Ulm. Um sich neue Sachen zu merken, benutzt Berit Eselsbrücken. "Rot heißt tot." Wenn ein Spermium rot wird, lebt es nicht mehr.

Rund 3000 Behandlungen zählen die Mitarbeiter in Ulm im Jahr. Laut Bundesverband Reproduktionsmedizinischer Zentren (BRZ) hat mindestens jedes siebte Paar in Deutschland Probleme bei der Zeugung eines Kindes. Die Zahl steigt, weil die Paare immer später an Familie denken.

"Wir wünschen viel Glück"

Firmen wie Bosch und IBM werben damit, wie gut sie das Problem Kinderbetreuung lösen. "Familienbewusst" heißt das Modewort. Den Unternehmen, die sich für eine bessere Kinderbetreuung einsetzen, geht es weniger um die Karrierechancen von Frauen oder gar Kinder als Selbstzweck.

Ohne Kinder fehlen irgendwann die Fachkräfte, und ohne die ist das deutsche Produktionsniveau nicht zu halten. Ohne Nachwuchs geht die Wirtschaft pleite. Kinder sind zu einer ökonomischen Größe geworden.

Berit treibt ein anderes Problem um. "Da bewegt sich nichts", sagt sie. Unter ihrem Mikroskop liegt das Ejakulat von Matthias Maier (Namen aller Patienten geändert). Er hat am Vormittag schon einmal "gespendet", wie man hier sagt. Er war in diesem kleinen Raum mit den weißen Wänden. Ein dunkles Ledersofa steht da, eine Grünpflanze, ein Regal mit abgegriffenen Heftchen. Herr Maier hatte keinen Erfolg.

"Sieht aus wie eine Marslandschaft", sagt der Laborleiter Sanjay Bhojwani über Maiers Probe. "Im Mikroskop sieht man nur Zellmaterial, keine Spermien." Sanjay Bhojwani liebt Sauberkeit und schöne Zellen. Ihn umgibt eine freundliche Unruhe. Wenn er in seinem Labor unbedecktes Haupthaar sieht, oder ein Staubkorn, überwiegt die Unruhe. "Hss", macht er dann. Wenn er eine befruchtete Eizelle sieht, die sich schön entwickelt hat, ist er stolz. "Ein wunderbarer Embryo. Grad A." Das ist die beste Note für einen Embryo.

Im Nebenraum wartet Frau Schneider, Jahrgang 1967, mit gespreizten Beinen auf einer Liege. Sie sieht den Grad-A-Embryo im Labor auf einem Bildschirm, sieht, wie Bhojwani ihn mit einer langen Nadel aufsaugt. Es ist Frau Schneiders Embryo. Auf dem Monitor erscheinen die Worte "Wir wünschen viel Glück". Eine Ärztin übernimmt die Eizelle und pflanzt sie in Frau Schneiders Gebärmutter ein. Man nennt das Embryotransfer.

"Denke wie eine Eizelle"

Manche Frauen lassen sich zehnmal behandeln. Es kann dauern, bis ein Embryo sich einnistet. In 70 Prozent der Fälle bleiben alle Versuche vergeblich. Die Geburtenrate nach einer künstlichen Befruchtung liegt zwischen 25 und 30 Prozent.

Friedrich Gagsteiger leitet die Kinderwunschzentren in Ulm und Stuttgart. In der Branche hat er einen guten Ruf. Er verströmt Zuversicht und Zutrauen. Vielleicht wird man so, wenn man täglich emotionalen Extremzuständen ausgesetzt ist. In seinem Büro verkündet er Menschen, ob sie eine Familie werden oder ein Paar bleiben. Dennoch bezeichnet er seine Arbeit als Traumjob. Es klingt etwas eingeübt, wenn er sagt: "Was gibt es Schöneres, als den ganzen Tag Babys zu machen?" Gagsteiger wurde als Sohn eines Missionars in Thailand geboren. Aufgewachsen ist er in Franken.

Ob sich ein Embryo einnistet, hängt davon ab, wie der Organismus ihn empfängt. Das weibliche Immunsystem vergleicht er mit den Abläufen in der Politik. Wenn Stuttgart-21-Gegner erwartet werden, sagt er, stellt man panisch Bereitschaftspolizisten auf. "Wenn man den Dalai Lama erwartet, plant man Kinderchöre und Blumensträuße." Zurzeit denken die Menschen mehr an Stuttgart 21 als an Dalai Lama.

"Denke wie eine Eizelle"

Der Druck im Alltag steigt. "Vor allem in der Arbeit", sagt Gagsteiger. Frauen würden sich nicht mehr trauen, während der Arbeitszeit zum Arzt zu gehen. Das macht die Behandlung schwierig. Stress beeinflusst den Hormonhaushalt. Eine Frau, die sich nicht gut fühlt, hat geringere Chancen, schwanger zu werden. "Das ist ein Schutzmechanismus aus der Steinzeit." Damals war die Schwangerschaft ein Wagnis, das Frauen nur eingehen konnten, wenn keine Gefahr drohte.

Über zwei Millionen Jahre später ruhen die Hoffnungen auf Fachleuten wie der Medizinisch-Technischen Assistentin Berit in Ulm. Sie muss es schaffen, die Spermien von Herrn Maier in Gang zu bringen. "Sonst kommen wir ums Schnippeln nicht herum." Bei Operationen entnimmt Gagsteiger den Männern ein Stück Gewebe vom Hoden, um Spermien zu gewinnen. Berit mischt Flüssigkeiten verschiedener Farben. Öffnet Fläschchen, schließt Fläschchen. Der Außenstehende verliert den Überblick.

Von all dem hat Frau Maier nichts geahnt, als sie vor ein paar Stunden im Operationsraum lag. Ihr Atem ging schneller als sonst. Die Aufregung. Sie hatte noch gehört, wie der Arzt sagte: "Suchen Sie sich einen schönen Traum raus. Sommer, Sonne, Strand und Meer." Und während draußen die Schneeflocken tanzten, schlief Frau Maier ein. Das Betäubungsmittel wirkte, Gagsteiger entnahm ihr zehn Eizellen. Im Fachjargon heißt das Punktion. Danach kamen die Zellen in einen Brutschrank. Dort warten sie auf Befruchtung.

"Bei uns gilt: Denke wie eine Eizelle, wie ein Embryo", sagt Gagsteiger. "Wir gestalten es hier so, dass ein Embryo sich wohlfühlt." Das unterscheidet sein Institut von der Außenwelt: Draußen vor dem modernen Glasgebäude gehen Menschen mit eiligen Schritten zur Arbeit. Eine produktive Gesellschaft, sagen Experten, braucht gut ausgebildete Menschen - und arbeitet gegen deren genetisches Programm.

"Da haben die Spermien kein Benzin"

Der Markt fordert studierte Frauen und Männer mit Berufserfahrung. Das braucht Zeit. Die Frauen tun in ihrer fruchtbaren Phase genau die Dinge, die es erschweren, Kinder zu kriegen. Sie studieren intensiv, arbeiten hart, nehmen die Pille. Und wenn es zu spät ist, tun sie alles, um doch noch Kinder zu bekommen. "Eine 35-jährige Frau hat nur halb so gute Chancen, schwanger zu werden wie eine 25-Jährige", sagt Gagsteiger. Das Alter, in dem Frauen ihr erstes Baby bekommen, ist im Schnitt von knapp 24 in den 1970er Jahren auf 29 im Jahr 2010 gestiegen. Auch die künstlichen Befruchtungen nehmen zu. 1994 ließen sich noch 22.000 Frauen behandeln, zehn Jahre später waren es fast 70 Prozent mehr: 37.200. Es ist eine milliardenschwere Industrie der Menschenmacher entstanden. Rund vier Millionen Babys hat sie seit 1978, dem Jahr der ersten künstlichen Zeugung, geschaffen. Kinderwunschinstitute, Labore und Pharmakonzerne leben von ihr. Die Kunden sind verunsichert, schweigsam - und bereit, jeden Preis zu zahlen. Doch nur Besserverdiener können sich eine künstliche Befruchtung leisten.

Einen Einbruch erlebte diese Industrie 2004. Bis dahin hatten die Krankenkassen die Kosten komplett übernommen. Rund 3000 Euro kostet die Behandlung. Mit der Gesundheitsreform 2004 beschloss die Politik, dass die Kassen fortan nur noch die Hälfte der Kosten übernehmen - und das auch nur bei den ersten drei Versuchen. Danach wird die Behandlung als "ohne Aussicht auf Erfolg" eingestuft. Private Versicherungen übernehmen in der Regel alle Kosten. Der zuständige Verband schätzt, dass pro Jahr zwischen 160 und 170 Millionen Euro für Kinderwunsch-Behandlungen ausgegeben werden. Über die Hälfte geht an die Hersteller von Fruchbarkeitsmedikamenten wie Merck, MSD und Ferring. Zwischen 10 und 20 Prozent der Ausgaben kommen bei den Ärzten an. Das Ulmer Kinderwunschzentrum erwirtschaftet im Jahr zwei Millionen Euro. Merck hat 2010 weltweit 657 Milliarden Euro mit Medikamenten zur Behandlung von Unfruchtbarkeit umgesetzt. Als einen Wachstumsmarkt sieht Gagsteiger die Branche allerdings nicht. Es gingen zwar mehr Paare in Behandlung, aber aufgrund des demografischen Wandels gebe es bald immer weniger davon. 2009 zählte das Branchenregister 49.600künstliche Befruchtungen.

"Da haben die Spermien kein Benzin"

Um ihren Umsatz zu steigern und die staatliche Unterstützung bei der künstlichen Befruchtung zu legitimieren, errechnen Lobbygruppen in den USA und Großbritannien den volkwirtschaftlichen Nutzen eines Kindes. "Ökonomische Gründe können sowohl aus theologischer wie auch aus allgemein ethischer Perspektive nicht angeführt werden, wenn es um die Frage geht, ob ein Kind zur Welt kommen kann oder nicht", sagt ein Sprecher der Diözese Rottenburg-Stuttgart. "Die Katholische Kirche lehnt künstliche Befruchtung vom Grundsatz her ab." Es fehle die leibliche Beziehung, "gewissermaßen die naturgegebene Form der Zeugung".

In Ulm stößt Berits Kollegin die Tür zum Labor auf. "Was hast du mit den Spermien gemacht?", ruft sie. "Sie bewegen sich." In der Ulmer Praxis gehen die Daumen nach oben, es wird gelacht. Sanjay Bhojwani vergisst, dass er Hunger hat. In all dem Trubel sitzt Herr Maier auf einer Bank, er wirkt wie ein Student, der nicht weiß, ob er seine Abschlussprüfung geschafft hat.

Im Labor arbeitet Bhojwani an der künstlichen Befruchtung von Frau Maiers Eizellen. Er schaut ins Mikroskop, in jeder Hand hält er einen Hebel. "Mein Herz klopft", sagt er. Dann pflanzt er ein Spermium nach dem anderen in eine Eizelle. Berit sagt nicht viel. Sie lächelt, ist entspannt. "Manchmal ist das einfach so", sagt sie. "Da haben die Spermien kein Benzin."