Maryam S. will ihr Gesicht nicht in der Zeitung zeigen, aber von ihren Erfahrungen am Bahnhof sprechen. Foto: Simon Granville

Der Ludwigsburger Bahnhof gilt als gefährlicher Ort – doch was passiert dort wirklich? Maryam S. arbeitet in einer Bahnhofskneipe und beobachtet Tag und Nacht das Geschehen. Es gibt die Kriminalität und die Ängste, sie beunruhigt aber etwas anderes.

Es ist fast Mittag, doch bei den rund ein Dutzend Gästen im D-Zügle am Ludwigsburger Bahnhof gibt es anstatt Leberkäse im Brötchen Weizenbier und Kippen. Mit einer lässigen Routine koordiniert eine junge Kellnerin die Ankunft etlicher frischer Bierfässer, die auf Sackkarren gestapelt ins Lager geschoben werden. Maryam S. arbeitet seit rund einem halben Jahr in der Kneipe, von der aus man direkt auf den Bussteig torkeln kann. „Ob ich mich am Bahnhof sicher fühle?“, wiederholt sie die Frage des Journalisten erstaunt. „Hier kriegt man schon viel mit, Taschendiebstähle oder Schlägereien – aber so etwas passiert an einem Bahnhof halt.“

 

Das Sicherheitsgefühl am Ludwigsburger Bahnhof leidet seit Jahren, laut Kommentaren unter Social-Media-Posts und Gemeinderatsdebatten trauen sich einige Bürger kaum mehr dort hin. Maryam arbeitet fünf Tage die Woche am Bahnhof, Tag und Nacht spricht sie mit den Menschen vor Ort. Für sie ist der Bahnhof zwar rau, aber keine „No-Go-Area“. Sie sorgt sich vielmehr um wachsende Vorurteile zwischen den gesellschaftlichen Gruppen, die den Bahnhof beleben.

Bahnhof Ludwigsburg: Frauen wird hinterhergepfiffen

„Hier passiert eigentlich jeden Tag etwas“, sagt Maryam und deutet raus auf den Busbahnhof. Drogen, Herumgeschreie, Wortgefechte, Streitereien und Schlägereien – vor kurzem habe sie einen Taschendiebstahl beobachtet. „Ein Mann hat einer Frau einfach die Handtasche vom Arm gerissen.“ Sie habe beobachtet, wie die Polizei immer häufiger Streife fahre und Männergruppen kontrolliere, sagt die Kellnerin und schiebt hinterher: „Vor allem Ausländer werden kontrolliert, das ist schon auffällig.“

Maryam mag ihre Gäste, auch wenn sie manchmal heftig mit ihren diskutiert. Foto: Simon Granville

Maryam macht Kampfsport und tritt auch ansonsten auffällig selbstbewusst auf, barsche Sprüche der Gäste kontert sie energisch aber freundlich. „Ich habe kein Problem damit, nachts zur S-Bahn zu laufen“, sagt sie. Gleichzeitig könne sie nachvollziehen, dass sich Frauen am Bahnhof unsicher fühlen. Es gebe eigenartige Personen und auch ihr werde immer wieder hinterhergerufen oder gepfiffen – „das geht echt überhaupt nicht“. Im Großen und Ganzen findet sie den Ludwigsburger Bahnhof aber „relativ entspannt“ – es sei eben ein Bahnhof. Ein Ort, an denen sich Menschen mit ganz unterschiedlichen Hintergründen aufhalten. Häufig auch diejenigen, die sonst keinen anderen Platz in der Stadt finden. Das könne gefährlich wirken, sei es aber eigentlich nicht, sagt Maryam. Wer kein aggressives Verhalten an den Tag lege, sei hier fast so sicher wie an allen anderen Orten der Stadt. „Es gibt mehr Angst in den Köpfen, als notwendig wäre. Die Leute machen mehr daraus, als es ist.“

Nicht nur am Bahnhof Ludwigsburg: Viele Menschen auf engem Raum

Diesen Eindruck unterstreicht Guido Passaro, Polizeidirektor und Stadtrat in Ludwigsburg. Bahnhöfe würden soziale Randgruppen anziehen, nicht nur in Ludwigsburg, sondern überall. „Manche dieser Leute sind nicht vertrauenserweckend, das heißt aber nicht, dass sie auch kriminell sind.“

Am Bahnhof seien eben viele Menschen auf engem Raum, sagt Passaro, „da entsteht Wärme und Reibung, und dann reibt es sich manchmal zu dolle“. Die Lage sei jedoch keinesfalls beunruhigend. Laut Passaro zeigen die nackten Zahlen, dass die Kriminalität am Bahnhof sogar ab- statt zunimmt.

Im D-Zügle kassiert Maryam einen Stammkunden ab und verabschiedet ihn mit einem Handschlag wie unter guten Freunden. Auch sie habe nicht den Eindruck, dass die Situation am Bahnhof schlimmer werde. Eines beobachte sie jedoch: Als Kellnerin merke sie, wie die Gräben zwischen den Menschen am Bahnhof tiefer werden. Die unterschiedlichen Gruppen stehen sich zunehmend in Feindschaft gegenüber. Sie merke, wie Jugendgruppen aufmüpfig aufträten, und parallel dazu die Vorurteile, vor allem gegenüber ausländischen Menschen, wachsen würden.

Mit kleinen Schritten für mehr Miteinander am Bahnhof

Mit ihren palästinensischen Wurzeln bekomme auch sie die teils verletzenden Ressentiments zu spüren – auch von Gästen. „Mir ist es aber wichtig, trotzdem im Gespräch zu bleiben und die Verbindung zu den Leuten aufrechtzuerhalten.“ Sie wisse, dass sie die Menschen nicht ändern und den Hass zwischen den Gruppen am Bahnhof nicht stoppen könne, aber „mit den Gesprächen versuche ich wenigstens, in kleinen Schritten etwas zu verändern“.

Es sei schade, sagt Maryam nachdenklich, „der Taschendiebstahl vor kurzem. Da waren es junge Flüchtlinge, die der deutschen Frau zu Hilfe kamen. Das wird dann auch kurz gewürdigt, aber an den Feindseligkeiten ändert das nichts.“ Die Menschen seien gar nicht so verschieden, sagt sie, sie müssten sich nur miteinander auseinandersetzen.

Eigentlich seien der Bahnhof und die Bahnhofskneipe besondere Orte für die Stadt. Hier würden unterschiedliche Menschen aufeinandertreffen, die sich sonst nie begegnen würden, sagt die Kellnerin. Deutsche, Menschen mit Migrationshintergrund, Arbeiter und Studenten. Manchmal, spät in der Nacht, erzählt Maryam, sitzen alle zusammen, lachen und singen gemeinsam.

Weitere Eindrücke vom Bahnhof

Gelassenheit
 Viele Ladenbetreiber am Bahnhof sehen ihre Sicherheit nicht gefährdet. „Wir haben hier eigentlich nie Probleme, ich fühle mich sicher“, sagt Tanja Szauter vom Lotto-Kiosk. Die Betreiberin eines Modeladens sagt, dass die Lage eher besser als schlechter wird. „Vor ein paar Monaten wurden hier Frauen hinterhergepfiffen, die Polizei ist eingeschritten, und jetzt ist die Gruppe weg.“ Apothekerin Brigitte Vogl sagt, dass es zwar bedrohliche Situationen gibt – die aber nicht häufiger werden. In den seltensten Fällen müsse sie die Polizei rufen.

Sorgen
 Andere Befragte äußern sich besorgt, die Unsicherheit am Bahnhof steige. „Die Gäste werden aggressiver, erst vor kurzem wurde mir Schläge angedroht“, sagt Imbissbetreiberin Andrea Kaya. Kneipenbesucher berichten von immer aufmüpfigerem Verhalten von jungen Männern. Ein Busfahrer, der schon 22 Jahre in Ludwigsburg unterwegs ist, sieht ebenfalls eine negative Entwicklung.