Christine Lehmann führt lesend durch das Lehen-Viertel Foto: Georg Linsenmann

Mit einem Krimi-Spaziergang startet die Geschichtswerkstatt eine Reihe zu Gasthäusern im Süden. Christine Lehmann führt lesend durch das Lehen-Viertel. Die Endstation der Tour war die Theke bei der Lehenwirtin Karin Beck.

S-Süd - Und was suchen wir hier genau?“ Die Frage, mit der Christine Lehmann die Lesung aus ihrem noch im Werden befindlichen neuen Krimi an der Markuskirche eröffnet, ist eine Verlockung. Vielleicht gleich mal rüber an die Nordseite der Kirche, auf den Fangelsbachfriedhof? Auch wenn die Grabstätte der Roslinde Stumpp längst aufgelassen ist? Auch zwei Stunden später noch zieht dieses eher randständige Detail dahin, nach dem Abschied aus dem „Lehen”. Denn nun scheint diese Rosalinde Stumpp so lebendig, wie sie es vielleicht einmal war: Vor hundert Jahren, in der vollen Blüte ihrer Weiblichkeit. War sie das Opfer eines Mordes aus Eifersucht? Ihr Mann, der erste Wirt des Lehen, der Täter? Nichts Genaues weiß man nicht. Nur soviel, dass der Opernsänger Paul Rummel schwer herumscharwenzelt war um die Schöne. Und dass ihr Mann wohl selbst ein ordentlicher Schwerenöter war.

Die Figuren des Krimis haben alle hier gelebt

Alles scheint möglich. Und könnte doch auch ganz anders gewesen sein: „Die Handlung ist frei erfunden”, versichert die Krimi-Autorin und fügt hinzu: „Im Gegensatz zu den Figuren des Krimis. Die haben alle hier gelebt.” Der Lokalhistoriker Wolfgang Jaworek hat Lehmann geholfen bei der Recherche nach den faktischen Zeitumständen, in denen das fiktive Geschehen spielt. So lockt der Krimi sowohl auf die Spuren von Menschen, die einst hier gelebt hatten, wie auch in die Geschichte des Quartiers und darüber hinaus. Und selbstredend mitten hinein in die Geschichte des Lehen, dieses 1904 eröffneten, unter Denkmalschutz stehenden Gasthauses.

Ein spannenderer und sinnfälligerer Auftakt der Reihe „Gastronomie im Süden“ der Geschichtswerkstatt Stuttgart-Süd e.V . ließ sich kaum denken. Denn Lehmann lässt nicht nur mit wenigen Strichen Charaktere erstehen, sondern lässt damit auch ganz nebenbei Geschichte lebendig werden. Ortsgeschichte – und manches, was darüber hinaus weist. Gleich an der Markuskirche: „Hier hielt Pastor Niemöller im Oktober 1945 seine berühmte Predigt... Niemöller sagte, es genüge nicht, den Nationalsozialisten die Schuld zu geben, auch die Kirche müsse ihre Schuld bekennen. Daraus entstand das berühmte Stuttgarter Schuldbekenntnis beider Kirchen.”

Die Autorin schafft den hier lebenden Menschen ein Denkmal

Selbst aus der Architektur des Viertels ersteht der Geist der Zeit, der die Protagonisten mit geprägt hatte. Mit verblüffenden Details wie anlässlich der Leichenschau der Rosalinde: „Noch bis in die Zwanzigerjahre hinein musste es kein approbierter Arzt sein, der den Tod feststellte. Das konnte auch ein Polizist, ein Pfarrer, eine Leichenfrau oder der Metzger machen.” Mit ihrer sprachlichen Imaginationskraft erweckt Lehmann im Zuge des Spaziergangs den historischen Genius loci des Viertels, malt Menschen wie dem Buchhändler Ost oder dem Kellermeister Frank ein Denkmal, und wenn deren Schicksale fragmentarisch erstehen, dann ist die historische Folie nie bloßes Kolorit. Dessen Bedeutung hatte Richard, der schrullige Oberstaatsanwalt, schon anlässlich des Hinweises auf die Niemöller-Rede verortet: „Weil Wissen uns verwurzelt, Lisa.” Ein Satz, für den der Rundgang selbst ein sprechendes Beispiel gab, zudem mit dem Witz und der Hinterlist der gestandenen Krimi-Autorin angereichert.

Bis hinein in die Theken-Lesung im Lehen, der Endstation des Spazierganges, wo Karin Beck, die neunte Lehenwirtin, mit Kaffee und Kuchen empfing. Und wo nun, den Krimi im Ohr, das Großgemälde vom Hirrlinger Schloss, ganz neu an Bedeutung gewann: Dieses Gemälde hatte Lehmann die Idee zu ihrem Krimi gegeben. Rosalinde stammte von dort. Ihr Mann, Bernhard Stumpp, hatte es vor 110 Jahren für sie malen lassen. Er soll sie sehr geliebt haben.