Auf der Jagd: Russlands Präsident Wladimir Putin. In der Ukraine haben sich seine Truppen in ihrem Angriff festgefahren. Foto: picture alliance / /Astakkov

Auch deutsche Politiker müssen sich darauf vorbereiten, dass die russischen Streitkräfte und damit ihr Präsident den Krieg in der Ukraine verlieren. „Sprachlos“ und „überrascht“ können und dürfen dann nicht mehr gelten.

Stuttgart - Stellen wir erst einmal ein paar Dinge klar: Der Krieg in der Ukraine begann nicht am 24. Februar 2022 um 3.55 Uhr. Der Krieg in der Ukraine begann spätestens am 27. Februar 2014, als russische Spezialkräfte morgens das Parlamentsgebäude auf der zur Ukraine gehörenden Halbinsel Krim besetzten. Seitdem agierten russische Truppen offen oder verdeckt im Osten und Süden der Ukraine, wie der Abschuss des malayischen Verkehrsflugzeugs mit der Flugnummer MH-17 durch russische Luftabwehr am 17. Juli 2014 zeigt.

Der Unterschied von 2919 Tagen bei der Datierung des Kriegsbeginns ist aus zwei Gründen wichtig: Er zeigt erstens, wie gedanken-, taten- und sorglos, unverantwortlich westliche Politiker und Journalisten mit dem Krieg in der Ukraine seitdem umgegangen sind. Zweitens: Viele Ukrainerinnen und Ukrainer haben sich in dieser Zeit genau auf die neue Phase des Krieges vorbereitet, in die der Konflikt am 24. Februar 2022 eingetreten ist: Sie haben an Waffen trainiert, die Armee wurde von Partnern aufgerüstet und trainiert, die ukrainischen Generäle haben Pläne voller Überraschungen für Angreifer geschmiedet. Gerade diese acht Jahre intensiven Vorbereitens haben dazu geführt, dass die aktuelle russische Offensive zuerst verzögert, dann gestoppt wurde – nicht etwa das Handeln westlicher Politiker.

Und: Wieder einmal waren viele westliche, viele deutsche Politiker „überrascht“ und „sprachlos“, als vor zwei Wochen die ersten Bomben auf Kiew fielen. „Überrascht“ und „sprachlos“ scheinen in den vergangenen Jahren zum Markenzeichen westlicher Politik geworden zu sein. Das macht mich – mit allem gebotenen Respekt – sprachlos.

Dass trotz alledem der russische Präsident Wladimir Putin den Krieg um die Ukraine verlieren wird, ist zuvorderst das Verdienst der Ukrainerinnen und Ukrainern, die sich mit ungeheuerem Mut allen Gefahren für Leib und Leben trotzend sich selbst mit bloßen Händen Panzern entgegenstemmen. Diesen Mut hat Putin unterschätzt oder gar nicht erst in sein Kalkül einbezogen.

Litauen, die USA, Großbritannien und Kanada erkannten 2014, dass Putin der Welt seine Vorstellungen von der Region aufzwingen wollte. Diese vier Länder rüsteten die ukrainischen Streitkräfte umfangreich vor allem mit modernen Panzerabwehrwaffen aus, trainierten sie, berieten ihre Offiziere.

Diese Kombination aus Mut und Wissen hat den Angriff der russischen Truppen gestoppt, zwingt den demoralisierten russischen Verbänden den Kampf auf, den die Ukrainer vorbereitet haben: In Städten, die den Verteidigern vertraut sind, wo sie aus Kanallöchern überraschend hervorstürmen, plötzlich im Rücken der Angreifer auftauchen. Wo dieser jeden Schuss, jedes Brot zu Fuß über Trümmer an die Front schleppen muss. Weil für Panzer und Laster kein Durchkommen ist. Das zeigen die Bilder aus Irpin und Charkiw schon jetzt. In den Städten wird Putin den Krieg verlieren. Zumal er keine Reserven hat, um nennenswert Soldaten und erst recht modernes Kriegsgerät nachzuschieben: In den anrollenden Verstärkungen sind viele in den 1960er und 1970er Jahren eingeführte Panzer und Geschütze, kaum moderne. Zivile Laster statt militärische.

Westliche Politiker, die Bundesregierung, müssen sich bereits jetzt damit auseinandersetzen, was passiert, wenn Putins Soldateska geschlagen ist. Wie sie reagieren, wenn Putin abtritt, wenn Russland implodiert? Wer sichert die Atomwaffen, die aktuell durch Befehlsketten sicher sind? Wie wird China auf ein Russland reagieren, das gerade seine militärische Handlungsfähigkeit in der Weite der Ukraine verliert? Dafür müssen abseits des aktuellen Tagesgeschäftes Antworten her. Keine Sprachlosigkeit, keine Überraschung mehr.