Die Staats- und Regierungschefs der Union einigen sich auf ein sechstes Sanktionspaket – zu später Stunde und nach heftigem Streit. Auf Druck von Ungarn gibt es wesentliche Einschränkungen.
Die EU ist knapp an einem Fiasko vorbeigeschrammt. Buchstäblich fünf vor zwölf einigten sich die Staats- und Regierungschefs in der Nacht auf Dienstag auf neue Sanktionen gegen Russland. Heftig umstritten war ein Ölembargo. Auf Drängen Ungarns hin sollen vorerst nur russische Öllieferungen über den Seeweg unterbunden werden. Per Pipeline erfolgende Transporte werden zunächst weiter möglich sein.
Ungarns Premier Victor Orban feierte sich für dieses Ergebnis noch in der Nacht selbst auf seinem Facebook-Account. Er habe die Interessen seines Landes verteidigt, schreibt er, „ungarische Familien können heute Nacht ruhig schlafen“.
Eine andere Sicht auf die Dinge
Die EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen versucht, das Ergebnis in einem anderen Licht darzustellen. Trotz der Ausnahmen für die Pipelinelieferungen würden die Ölimporte in der EU bis Ende des Jahres um rund 90 Prozent reduziert. Hintergrund dieser Zahl: Deutschland und Polen haben bereits deutlich gemacht, dass sie nicht von der Ausnahme für Pipelineöl profitieren wollen. Beide Länder sind wie auch Ungarn, Tschechien und die Slowakei an die einzige aus Russland kommende Pipeline angeschlossen. In Deutschland versorgt die „Druschba“ („Freundschaft“) genannte Leitung bislang die großen ostdeutschen Raffinerien in Schwedt und Leuna. Insgesamt kommt bislang ein Drittel der russischen Ölimporte über die „Druschba“, zwei Drittel werden über den Seeweg transportiert.
Mehrere EU-Politiker zeigten sich zufrieden mit dem Abkommen. „Es ist ein fairer Kompromiss, der beste, den wir erreichen konnten“, sagte Estlands Regierungschefin Kaja Kallas. „Niemand will noch weiter Energie von Russland kaufen, es ist ein barbarischer Staat, auf den man sich nicht verlassen kann“, erklärte der polnische Regierungschef Mateusz Morawiecki.
Eine Wende in der Haltung der EU
Der Gipfel in Brüssel markiert trotz des nun beschlossenen sechsten Sanktionspakets eine Wende in der Haltung der Europäischen Union angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine. In den ersten Wochen des Krieges zeigte die Union eine nie dagewesene Einigkeit gegenüber Moskau. In schneller Folge einigten sich die 27 Mitgliedstaaten auf immer schärfere Strafmaßnahmen.
Diese einheitliche Front ist nun zerbrochen, die Aggression Russlands scheint für manche Regierungen ihren Schrecken verloren zu haben. Plötzlich wird wieder gefeilscht, um Ausnahmen und Übergangsfristen gerungen und um finanzielle Vorteile geschachert. So wurden im Sanktionspaket auch einige andere Punkte entschärft. Auf Druck von Zypern dürfen reiche Russen in der EU weiter Immobilien kaufen. Und Griechenland wehrte sich erfolgreich dagegen, EU-Reedereien den Transport von russischem Öl zu verbieten.
Lesen Sie aus unserem Angebot: Russland eint den Westen
Das Problem der Einstimmigkeit
Kritik kam von EU-Parlamentariern. Manfred Weber, Chef der christdemokratischen EVP-Fraktion im Europaparlament, dringt auf eine Abschaffung des Prinzips der Einstimmigkeit in der Europäischen Union. „Wir müssen endlich die Grundarchitektur der europäischen Entscheidungsmechanismen auf den Prüfstand stellen“, sagte Weber. „Ich bin nicht mehr bereit, dass wir uns von einem einzigen Land in der EU dann stoppen lassen. Wenn die EU handeln will, muss sie handeln. Deswegen muss die Einstimmigkeit abgeschafft und endlich die Mehrheitsentscheidung angewandt werden.“ Enttäuschung auch bei Rasmus Andresen, Sprecher der deutschen Grünen im Parlament. Er kritisiert, dass sich die EU von Ungarn erpressen lasse. Das Ölembargo in seiner jetzigen Form hält er für ein „fatales Signal in Richtung Russland“.
Teil eines umfassenden Sanktionspaketes
Das Ölembargo ist der wichtige Teil eines umfassenden Sanktionspakets. Dieses sieht auch vor, die größte russische Bank, die Sberbank, aus dem Finanzkommunikationsnetzwerk Swift auszuschließen. Zudem sollen der staatliche Fernsehsender Rossija 24 sowie die ebenfalls staatlichen Sender RTR Planeta und TV Centre in der EU verboten werden. Neben den Strafmaßnahmen gegen Russland vereinbarten die Staats- und Regierungschefs auch, der Ukraine bis Ende des Jahres weitere Finanzhilfen von bis zu neun Milliarden Euro zur Verfügung stellen, damit die Regierung in Kiew laufende Kosten etwa für Rentenzahlungen und den Betrieb von Krankenhäusern decken kann.