In der Ostukraine stehen sich russische und ukrainische Truppen gegenüber. Immer wieder fallen Schüsse. Doch in der Stadt Avdeevka dürsten die Menschen nach Normalität. Zwei Frauen helfen ihnen.
Avdeevka - Die Buslinie 136 in der Stadt Avdeevka, ganz im Osten der Ukraine, weckt bei vielen Bewohnern schöne Erinnerungen. Früher war ein Ticket der Linie die Eintrittskarte für die benachbarte Millionenstadt Donezk. Mit dem Beginn des Krieges im Jahr 2014 wurde die Verbindung gekappt, zwischen Avdeevka und der einstigen Metropole verläuft nun die Front.
Keine fünf Kilometer von der 30 000-Einwohner-Stadt Avdeevka entfernt schießen immer noch ukrainische Soldaten und prorussische Separatisten aufeinander, trotz eines offiziellen Waffenstillstands. In kaum einer Stadt in der Ukraine leben Menschen näher am Krieg als hier. Nirgends sind mehr Zivilisten vor den Gräueln geflohen, nirgends sind die Schäden sichtbarer.
„Wir kriechen nicht auf dem Boden“
Ein übergroßes Wandgemälde im Zentrum von Avdeevka erinnert heute an die Buslinie 136. Der hier geborene Künstler Baka hat sie auf die Fassade eines Plattenbaus gesprayt. In warmen Herbstfarben leuchtet das Haus zwischen dem grauen Dezemberhimmel und den Pfützen im Asphalt. Eine ganze Reihe solcher Wandgemälde schmückt heute die Häuser in der Ulica Gagarina. Die Bilder sollen die andere, schönere Seite der durch den Krieg geschundenen Stadt zeigen – das ist der Wunsch von Evgenia Wassiliewa.
Zusammen mit einem kleinen Team von Freiwilligen organisiert die 26-Jährige Veranstaltungen, Konzerte und Kunstaktionen wie die in der Ulica Gagarina. Davon erzählt sie bei einem Spaziergang durch die Innenstadt. „Alle denken, wir in Avdeevka kriechen wegen des Krieges nur auf dem Boden“, sagt sie. Das sei falsch.
Eine Frau kehrt in die Kriegszone zurück
Wie fast alle Jugendlichen hier verließ auch Evgenia nach der Schule die Stadt. Damals war der Krieg Alltag, Strom und Wasser fielen regelmäßig aus. Das ist heute anders. Seit Jahren wurde die Stadt nicht mehr angegriffen. Die Jobperspektiven haben sich gebessert, sind aber für Jugendliche dennoch wenig attraktiv. In der Regel heißt das: Entweder du schuftest wie jeder Fünfte hier in der Koksfabrik, oder du gehst.
Als eine der wenigen unter den Jungen kehrte Evgenia nach dem Studium zurück und verdient ihr Geld nun in der Bibliothek. Sie sagt, sie möchte mit ihren Projekten etwas aufbauen. „Unsere Aktionen werden niemanden daran hindern wegzugehen. Aber vielleicht gehen die Leute dann mit einem positiven Bild von der Stadt.“
Russland mobilisiert gewaltige Truppen
Avdeevka ist nicht mehr der Ort, in dem die Zeit stillsteht. Natürlich gibt es noch die leeren Häuser, deren Wände mit Einschusslöchern übersät sind. Im Wald am Stadtrand, wo Minen vergraben sind, hört man in der Nacht gelegentlich Gewehrfeuer. Doch es bewegt sich etwas, Menschen kommen nach Avdeevka zurück. Vor Kurzem eröffnete die Verwaltung einen neuen modernen OP-Saal im Krankenhaus, die Zugverbindung in die Hauptstadt Kiew wurde wieder in Betrieb genommen. Vieles gründet auf Initiativen von Freiwilligen und Hilfsorganisationen wie der von Evgenia.
Doch auch diese kleinen Hoffnungsschimmer drohen zu verblassen, sollte der Krieg in die Stadt zurückkehren. Verschiedenen Medienberichten zufolge droht Russland mit einer Invasion. Bis zu 175 000 Soldaten sollen in den kommenden Wochen an den Grenzlinien mobilisiert werden. Die Gründe, warum Russland den Status quo mit der Ukraine aufgeben und offene Kriegshandlungen riskieren sollte, halten die meisten Experten für abwegig. Doch haben den starken Mann im Kreml Expertenmeinungen in der Vergangenheit selten beeinflusst.
Alltag in der Bedrohung
„Wir haben gelernt, mit der Bedrohung zu leben“, sagt Evgenia. Den Satz hört man hier oft. Wie eine Floskel klingt das und ist doch real, weil jeder hier die Worte auf seine Weise interpretiert. Evgenia sagt, dass sie beim Spazierengehen manchmal um sich blickt, um ein Versteck auszumachen, für den Fall, dass Bomben fallen. Für sie sind das Mechanismen, die ihr ein Stück Alltag ermöglichen. Und eines sei klar: „Wenn die Russen sich entscheiden, auf uns Raketen zu schießen, wird sie niemand daran hindern.“
Lesen Sie aus unserem Angebot: Geheimdienste spekulieren über Russlands Truppenbewegungen
Am Anfang der Ulica Gagarina hängt an der Hausfassade ein Marienbild, das erste Graffito in der Straße überhaupt. Vergilbt und kraftlos wirkt es heute, demnächst will es Evgenia restaurieren lassen. 2017 schlug in das Haus gegenüber eine Granate ein und riss ein Loch so groß wie ein Hockeytor. Dass dabei niemand verletzt wurde, sagen sie hier, ist allein dem schützenden Blick Marias zu verdanken. Zehn Familien mussten damals evakuiert werden. Nadeschda Tkaschuk hat ihnen geholfen. Die Frau mit der kraftvollen Stimme gewann Juristen dafür, die Papiere der Bewohner in Ordnung zu bringen, und half den Familien bei der Wohnungssuche. Mittlerweile wurde das Haus mit Staatsgeldern restauriert. Vom Beschuss in der Wand fehlt jede Spur.
Blick ins verbrannte Wohnzimmer
Einige Monate nach Kriegsbeginn verließ die 44-Jährige ihre Heimatstadt Donezk und zog nach Avdeevka, weil sie sich als Ukrainerin fühlte und nicht als Russin. „Die Ukraine ist das Land, in dem ich aufgewachsen bin, hier möchte ich weiter leben“, sagt sie. So denken in der Ukraine viele.
Tkaschuk ist Mitglied von Proliska. Die Organisation wird von den Verneinten Nationen finanziert und soll Kriegsgeschädigten wieder auf die Beine helfen. Bis 2016 half das Team, Zivilisten aus der Schusslinie zu bringen. Heute geht es meist darum, die Kriegsfolgen aufzuarbeiten. Und diese Folgen haben viele Gesichter.
Lesen Sie aus unserem Angebot: Der beinahe vergessene Krieg
Nadeschda Tkaschuk fährt mit zwei Kollegen zum Stadtrand, um einen Mann zu besuchen, der seine Arbeit verlor und von Familie und Freunden zurückgelassen wurde. Irgendwann biegt der Bus ab und fährt rumpelnd auf einen Kiesweg. An dem schiefen Einfamilienhaus mit der Nummer 61 hängt kein Schild, das Tor steht offen, auch die Haustür ist nur angelehnt. Ein älterer Mann mit Gehstock erscheint. Er hat ein schmutziges Gesicht und trägt zwei unterschiedliche Schuhe. Im Haus ist es dunkel, es riecht verbrannt. Vor zehn Tagen entfachte vermutlich eine Zigarette in der Wohnung ein Feuer. Geplatzte Einmachgläser stehen auf dem Küchentisch, die Fenster sind mit Plastikfolie abgeklebt. „Was fehlt Ihnen?“, fragt Nadeschda und blickt in die glasigen Augen des Mannes. „Essen will ich“, entgegnet er mit schwacher Stimme. Auch seine Papiere haben die Flammen vernichtet, nur der Rentenschein ist geblieben. Nadeschda notiert alles. „Kommen Sie mit uns, wir bringen Sie an einen warmen Ort, hier können Sie nicht wohnen“, sagt sie. Der Mann will nicht, schüttelt den Kopf. Sie fragt nochmals, dann gehen die Helfer. „Manchmal stehst du da und weißt nicht, was du machen kannst“, sagt sie später. Sie will zumindest die Papiere des Manns in Ordnung bringen.
Korruption und Misswirtschaft sind allgegenwärtig
Auch im achten Kriegsjahr spricht keiner der Bewohner Avdeevkas von einer gewöhnlichen Stadt. In der beschossenen Wohnung in der Gagarinstraße, auf die die heilige Maria mit mildem Lächeln blickt, wohnt immer noch niemand. Bunte Plastikfolie flattert aus den Fenstern. Die Baufirma, die die Staatsgelder kassierte, verwendete bei der Restaurierung angeblich billiges Material. Jetzt liegt der Fall bei Gericht, und die Wohnungen müssen abgerissen werden. Misswirtschaft und Korruption sind die alten Begleiter des Kriegs.
„Wir dürfen uns nicht an den Krieg gewöhnen“, sagt Nadeschda Tkatschuk. „Wenn der Krieg zum Alltag wird, werden wir unaufmerksam.“ Und Achtlosigkeit kann tödlich sein in einer Stadt wie Avdeevka.