Das Schiff als Reiseziel: die neue „Harmony of the Seas“. Foto: Royal Caribbean

Weil die Nachfrage die Kapazitäten übersteigt, bringen die Reedereien gigantische Schiffe auf den Markt. Neue Rekordhalterin ist die „Harmony of the Seas“ – alles über die Trends in der Kreuzfahrtbranche.

Hamburg - Deutsche Urlauber stechen gerne in See. 2015 reisten 1,81 Millionen Bundesbürger mit einem Kreuzfahrtschiff. Die Begeisterung für das Meer hält schon einige Zeit an – zum zehnten Mal in Folge wurden die Zahlen des Vorjahres übertroffen. „Kreuzfahrten sind in den vergangenen 20 Jahren zu einem elementaren Bestandteil der Touristik avanciert – nicht nur in Deutschland“, sagt Norbert Fiebig, der Präsident des Deutschen Reise-Verbands (DRV). Innerhalb Europas gelten die Deutschen als besonders schiffsverrückt, sie halten einen Anteil von 28 Prozent am kontinentalen Markt. Auch die Briten oder die US-Amerikaner sind ein kreuzfahrtaffines Volk.

Ein besonders spannender Wachstumsmarkt ist China. Im Wettlauf um die Gunst des Milliardenvolks werden immer mehr Schiffe Richtung chinesisches Meer abkommandiert: Royal Caribbean schickte die „Quantum of the Seas“ ins Reich der Mitte, MSC Kreuzfahrten fährt seit diesem Mai mit der „MSC Lirica“ ab Shanghai, Aida Cruises hat sich ebenfalls Shanghai als neuen Heimathafen für eines seiner Schiffe ausgeguckt. Norwegian Cruise Line lässt sogar derzeit in der Meyer-Werft in Papenburg einen eigens auf chinesische Verhältnisse zugeschnitten Kreuzer bauen: Die „Norwegian Joy“ soll im April 2017 ausgeliefert werden.

Kreuzfahren sind bequem

Kreuzfahrten sind beliebt, weil sie so bequem sind. Kulturinteressierte schätzen, auf einer Rundreise nicht jeden Tag die Koffer packen zu müssen und dennoch viele Städte kennenzulernen. Fernsehbilder des „Traumschiffes“ tun ein Übriges, um die Sehnsucht nach Seeluft und der Sehnsucht auf den Ozeanen zu wecken. Laut DRV-Präsident Norbert Fiebig gibt es viele, die immer wieder eine Schiffsreise buchen: „Der Reisemarkt insgesamt wird jedoch nicht mehr wachsen, sondern sich nur anders verteilen.“ Die Passagiere fehlen also irgendwo an Land. Laut Helge Grammerstorf, Direktor beim deutschen Ableger des Kreuzfahrtweltverbandes CLIA, wird sich der Markt für Schiffsreisen „in den nächsten zehn Jahren verdoppeln“. Hotels und Reiseveranstalter müssen sich einiges einfallen lassen, um ihre Klientel nicht an die Kreuzfahrtbranche zu verlieren. Denn die Kapazitäten steigen: allein 2016 werden 27 neue Hochsee-, Fluss- und Spezialkreuzfahrtschiffe in Dienst gestellt. Darunter sind riesige Pötte wie die Anfang Mai in Hamburg getaufte „Aida Prima“ von Aida Cruises (maximal 3300 Passagiere) oder die am 29. Mai zu ihrer ersten Fahrt aufbrechende „Harmony of the Seas“. Das Schiff der Reederei Royal Caribbean kann 5497 Gäste bei Doppelbelegung beherbergen und gilt als derzeit größtes Kreuzfahrtschiff der Welt.

Diese beiden Schiffe sind mit modernster Technik ausgestattet, die die Belastung durch Abgase für Klima und Gesundheit möglichst gering halten sollen. Umweltverbände wie Greenpeace und Nabu gehen die Bemühungen dennoch nicht weit genug. Sie kritisieren, dass auf den Ozeanriesen ebenso wie auf Containerfrachtern hochgiftiges Schweröl als Treibstoff verbrannt wird. „Dieses Abfallprodukt der Ölindustrie ist umwelt- und gesundheitsschädlich und deswegen an Land längst verboten“, so der Nabu.

Mit nur einem Pool wird niemand mehr auf ein Schiff gelockt

Auf klassischen Seereisen fungiert das Schiff als schmuckes Beiwerk, um auf amüsante Weise neue Länder kennenzulernen. Diese Philosophie bedienen kleine, feine Kreuzer. Teile der Branche setzten jedoch auf Quantität, jagen von Rekord zu Rekord und überbieten sich mit Megalinern, die immer größer und immer exzentrischer werden sowie immer mehr Attraktionen bieten. Mit einen Pool und einem Promenadendeck allein lockt man schon lange niemanden mehr an Bord. Es müssen schon 23 Pools und 12 Bars sein. Monsterrutsche, Zipline, Kletterwand, Basketballfeld, Golfsimulator sind auf modernen Spaßdampfern fast schon Standard. Die „Harmony of the Seas“ macht weitere Möglichkeiten zur Zerstreuung wie Eislaufen oder ein Spaziergang im bordeigenen „Central Park“ inmitten von 12 000 echten Pflanzen möglich.

Mit einer Länge von 362 Meter, einer Breite von 60,5 Metern und einem Tiefgang von 9,1 Metern kann die neue Rekordhalterin nur wenige, auf Riesenpötte eingerichtete Häfen anlaufen. Interessante Passagen wie die Durchfahrt des Panama-Kanals bleiben ihr verwehrt. Sie würde in den Schleusen stecken bleiben. Also werden in die üblicherweise siebentägigen Reisen Seetage eingeplant, an denen nirgendwo angelegt wird und stattdessen ausgiebig das Schiff erkundet werden kann. So bleibt genug Zeit, Geld an Bord im Kasino, in den Shopping-Malls oder an der Bar auszugeben. Das freut die Reedereien. Und es ist im Sinne vieler Kunden, die selbst im Hafen das Schiff nicht verlassen möchten. Landgänge sind überflüssig oder bestenfalls eine folkloristische Ergänzung des Bordprogramms. Das Schiff ist als schwimmende Stadt selbst zum Ziel der Reise geworden. Spötter sprechen hier von einer „cruise to nowhere“.

Der Gigantismus zu Wasser hat gerade erst begonnen

Die Idee einer „Kreuzfahrt nach nirgendwo“ ist übrigens nicht neu. Schon in den 1920er Jahren während der Prohibition kamen feierwütige Passagiere scharenweise an Bord von Vergnügungsdampfern, um sich schnellstmöglich hinaus aufs Meer und über die Grenze von drei Seemeilen fahren zu lassen. Ab da hieß es dann: Hoch die Tassen. Heute ist frei verfügbarer Alkohol kein Kriterium mehr. Größe und die Vielfalt des Angebots an Bord zählen. Irgendwann wird es bestimmt auch eine Formal-1-Strecke oder eine Skisprungschanze auf einem Schiff geben. Der Gigantismus zu Wasser hat gerade erst begonnen.

Infografik zur „Harmony of the Seas“ im neuen StN-Wochenende

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