Ingrid Güttinger ist Bereichsleiterin im Kreisjugendamt für Soziale Dienste und Jugendgerichtshilfe. Foto: privat

Immer mehr Familien melden sich beim Jugendamt des Rems-Murr-Kreises, weil sie in einer Krise stecken. Ihnen zu helfen sei nicht so einfach, sagt die zuständige Bereichsleiterin Ingrid Güttinger im Interview.

Waiblingen - Die Hilferufe aus Familien nehmen zu. Das berichtet Ingrid Güttinger, die Bereichsleiterin im Kreisjugendamt für Soziale Dienste und Jugendgerichtshilfe.

Frau Güttinger, ist das Kreisjugendamt seit Corona mehr gefordert?

Da möchte ich gerne unterscheiden zwischen erstem und zweitem Lockdown und der Zeit dazwischen. Im ersten Lockdown war die größte Herausforderung, sich neu auf alternative Kontaktwege einzustellen und die dringenden Aufgaben zu erkennen und zu erledigen wie Kriseninterventionen und Kinderschutz, da viele andere Hilfen weggefallen sind. Die Zeit dazwischen haben wir genutzt, den digitalen Bereich auszubauen und Übung darin zu bekommen. Dann gab es eine kurze Phase eines annähernd normalen Arbeitens bis zum zweiten Lockdown. Seither erleben wir ein hohes Fallaufkommen mit vielen neuen und uns bekannten Familien, bei denen es Krisen gibt, wo wir den Bedarf neu klären müssen. Dabei ist es vor allem bei neuen Familien wegen Corona schwierig, in Kontakt zu kommen. Man spürt, dass die lange Zeitdauer und die unklare Perspektive die Not in Familien verstärkt. Corona wirkt da wie ein Brennglas.

Mit welchen Problemen ist man verstärkt konfrontiert?

Die psychischen Belastungen für Kinder nehmen zu. Fehlende Unterstützung durch Schule, Schulsozialarbeit und Jugendhäuser kann vor allem für Familien katastrophal sein, die von Armut oder eingeschränkten Bildungschancen betroffen sind. Geldsorgen und psychische Erkrankungen bei Eltern sind zusätzliche Belastungen. Ein besonderes Augenmerk wird auf die Zahl der Kinderschutzfälle gerichtet. Sie werden in einer zusätzlichen Statistik erfasst. Eine erste Auswertung zeigt eine vermutlich gestiegene Anzahl von Gefährdungen, die aber bislang nicht in ausreichend wahrgenommen wird. Das Dunkelfeld ist wohl eher größer geworden. Wir gehen daher davon aus, dass die Fallzahlen weiter steigen. Viele Hinweise bekommen wir von der Polizei, zum Beispiel bei Vorfällen von häuslicher Gewalt, Gerichten und Staatsanwaltschaften. Die gute Kooperation mit ihnen zahlten sich jetzt aus. Der Anteil der Fälle, die auf Hinweise von Kitas oder Schulen zurückgehen, ist jedoch entgegen der Erwartungen oder Befürchtungen trotz der Schließungen nur leicht gesunken.

Wie kann Hilfe für Familien angesichts von Abstandsregeln organisiert werden? Wurden neue Ansätze entwickelt?

Es gibt verschiedene neue kreative Ansatzpunkte für Kontaktaufnahme. Zum Beispiel haben wir Spaziergänge mit den Familien gemacht. Oder wir haben ohne konkreten Anlass angefragt, ob wir vorbeikommen dürfen, um Geschenke zu bringen. Das waren dann etwa Bücher oder Stifte. Dabei ging es uns nicht um Kontrollen, sondern um das Signal: Wir sind da und arbeiten auch in Zeiten der Pandemie, wenn ihr uns braucht. Das wurde sehr positiv aufgenommen. Zudem haben wir lange Telefonate geführt und Vor- und Nachteile davon festgestellt. So fällt es oft leichter zu sprechen, wenn man sich nicht konfrontativ gegenübersitzt. Auch haben wir ein Kinder- und Jugendtelefon eingerichtet. Das war ein lange geplantes Vorhaben, das wir nun vorgezogen haben, um die Zugangsschwelle zu senken. Schließlich wollen wir für alle Familien da sein. Wir sind noch in der Testphase, aber das Angebot wird bereits gut angenommen. Wir bekommen regelmäßig Anrufe von Kindern, die mit jemandem reden wollen.