Charlotte mit den Perlen ihrer „Mutmach“-Kette. Für jeden Schritt im Kampf gegen die Krankheit gibt es eine Perle. Foto: Werner Kuhnle

Erkrankt ein Kind an Krebs, gerät das Familienleben aus den Fugen. Doch wie geht es nach der Heilung weiter? Das erzählt eine Familie aus dem Landkreis Ludwigsburg.

Charlotte hat es geschafft: Sie ist ein „Survivor“. So werden die Kinder genannt, die eine Krebserkrankung überstanden haben. Was sie auszeichnet? Eine rund zwei Meter lange Kette voller bunter Perlen: Charlottes sind meist rot und rund, es gibt aber auch orangefarbene flache Perlen. Manche haben die Form eines Kreisels, andere die einer Muschel. Auf manchen Perlen ist ein Smiley drauf.

 

„Mutmach-Perlen“ werden sie auf Kinderkrebsstationen genannt. Sie werden an die erkrankten Jungen und Mädchen verteilt, wenn sie eine Blutabnahme, eine Infusion, eine Chemotherapie oder eine Bestrahlung hinter sich gebracht haben. Eine Markierung für die lange Wegstrecke, die sie beim Kampf gegen Krebs bestreiten müssen – gemeinsam mit den Eltern und Geschwistern. Krebs im Kindesalter, so sagt es auch der Vater von Charlotte, ist eine Familienkrankheit: „Wir haben alle zusammen dagegen gekämpft.“

Rund 2500 Kinder pro Jahr erkranken neu an Krebs

Krebs bei Kindern ist zum Glück insgesamt selten. Jedes Jahr gibt es rund 2500 Neuerkrankungen in Deutschland. Zum Vergleich: Im Erwachsenenalter sind es im gleichen Zeitraum bundesweit 500 000 Krebsdiagnosen. „Dennoch darf nicht unterschätzt werden, welche Auswirkungen die Erkrankung auf die ganze Familie hat“, sagt Claudia Blattmann, die Ärztliche Direktorin der Kinderonkologie des Olgahospitals im Klinikum Stuttgart. Krebs ist kein Spaziergang. Es ist ein Marathon, der gut und gern bis zu einem Jahr gehen kann. Und keine Familie ist darauf vorbereitet. „Plötzlich fällt der Startschuss“, so die Onkologin. Und dann muss es losgehen.

Bei Charlotte ging es im Herbst 2022 los: Schon in den Sommerferien am Meer war die damals Vierjährige ständig schlapp und müde. Wenn sie aus dem Wasser kam, war ihr sofort kalt. Zurück in ihrem Zuhause im Landkreis Ludwigsburg kränkelte das Kind. Der Kinderarzt vermutete einen Magen-Darm-Infekt, ließ aber sicherheitshalber die Blutwerte prüfen.

Kinderarzt schickt die Familie sofort in die Klinik

„Von da an ging eigentlich alles ganz schnell“, sagt der Vater. Der Anruf des Arztes, die Aufforderung, so schnell wie möglich die nächste große Kinderklinik aufzusuchen, dann die stationäre Aufnahme am Olgahospital des Klinikums Stuttgart am selben Abend. „Ich bat die Ärztin um eine klare Ansage, weil ich mich davor fürchtete, meine schlimmste Ahnung selbst in Worte zu fassen“, sagt der Vater. Und dann sagte die Ärztin, Charlotte habe Leukämie. Und zwar die sogenannte ALL, wie man in der Medizin die Akute lymphatische Leukämie abkürzt. Sie ist die häufigste Krebsform bei Kindern.

Bei dieser Erkrankung entarten bestimmte Blutzellen in Charlottes Körper – nämlich die Vorläuferzellen der weißen Blutzellen – und vermehren sich unkontrolliert. Dadurch wird die Bildung gesunder Blutzellen – etwa der roten Blutzellen und der Blutplättchen – verdrängt. Und nicht nur das: Die entarteten Zellen können neben dem Knochenmark auch andere Organe des Körpers befallen.

Rund 82 Prozent aller Kinder werden von Krebs geheilt

Die Ärzte drängten zu sofortigem Therapiebeginn, signalisierten aber zugleich Hoffnung. „Sie sagten, dass die meisten Kinder, die hier auf die Krebsstation müssen, wieder gesund nach Hause gehen“, sagt der Vater. „Das hat uns den nötigen Mut gegeben.“

Die Heilungschance von Krebs bei Kindern ist tatsächlich deutlich besser als bei Erwachsenen: Nahezu 82 Prozent können dauerhaft geheilt werden, sagt Blattmann. Und das, obwohl es für Onkologen ungleich schwerer ist, eine Therapie zu finden, die auf die Biologie des Tumors eines Kindes abgestimmt ist. Der Markt ist zu klein, sodass sich für die pharmazeutischen Unternehmen eine gezielte Entwicklung für Kinder nicht lohnt, sagt auch Blattmann.

Um Krebs bei Kindern zu besiegen müssen Eltern den Ärzten vertrauen

Was zählt, ist daher vor allem die Erfahrung der Ärzte. Darauf müssen die Eltern vertrauen, sagt Claudia Blattmann. Es gibt Fälle, bei denen es ihrem Team nicht gelingt, den Schrecken vor der Erkrankung Krebs zu nehmen: „Diese Eltern lehnen die Therapien für ihr Kind ab – aus Angst, die Behandlung nicht gemeinsam durchstehen zu können.“

Es erfordert viel Kraft, optimistisch zu bleiben. Das sagen auch die Eltern von Charlotte. „Für uns stand zwar von Anfang an fest: Unsere Tochter wird gesund“, sagt der Vater. Dann aber gab es Tage, an denen die Vierjährige von den Nebenwirkungen der Therapie gezeichnet war. Statt fröhlich zu spielen lag sie still und blass im Bett. „Wenn sich unser Kind nicht so verhielt, wie wir sie kannten, kamen auch uns die Sorgen“, sagt die Mutter.

Auf Station kommen Eltern schnell miteinander ins Gespräch

In der Kinderonkologie bleibt damit keiner allein: „Uns hat der Austausch mit anderen Vätern und Müttern gut getan“, sagt der Vater. Die Frage „Hallo, wie geht’s?“ sei nie als Einladung zu Geplänkel gemeint. „Es wurde sofort Tacheles geredet.“

Die Ärzte wissen um die Wichtigkeit des Miteinanders auf Station. „Wir fördern es auch gezielt mit Aktionen“, sagt Claudia Blattmann. Es gibt Sportpädagogen für die Kinder, im Spiel- und Bastelzimmer ist immer jemand am Werkeln. Ein gemeinsames Frühstück ist wöchentlich ebenso eingeplant wie Waffel- oder Pfannkuchen-Nachmittage. Regelmäßig sind auch Psychologen vor Ort und bieten den Familien ihre Unterstützung an.

Diese haben auch den Eltern geraten, mit Charlotte möglichst offen über ihre Erkrankung zu sprechen: „Kinder bekommen es mit der Angst zu tun, wenn Eltern nur hinter verschlossenen Türen mit den Ärzten reden“, sagt die Onkologin Blattmann.

Mit Kindern offen über Krebs sprechen

Also besorgten Charlottes Eltern Kinderbücher über Krebs, sprachen mit ihrer Tochter über die Chemo-Ritter, die böse Krebszellen besiegen – immer dann, wenn Charlotte es wollte. Häufig schien es jedoch, dass ihr zu der Zeit auf Station wenig daran gelegen war, mehr über ihre Erkrankung zu erfahren. Sie nutzte die guten Tage lieber, um zu spielen oder mit dem Bobbycar durch die Krankenhausflure zu flitzen. „Das Interesse und auch das Verständnis für die Leukämie kam erst nach und nach“, sagt die Mutter. Etwa während ihrer Reha auf Sylt, wo sie mit Gleichaltrigen in Kontakt gekommen ist, die ebenfalls eine ALL-Erkrankung überstanden hatten. Und doch war dem Mädchen die Tragweite der Diagnose bewusst: „Sie hat schon früh realisiert, dass es eine Krankheit ist, an der man auch sterben kann“, sagt der Vater.

Ein knappes Jahr hat die Therapie gedauert. Im Rückblick sagen die Eltern, sie hätten es sich am Anfang schlimmer vorgestellt. „Vielleicht liegt es an Charlotte, die mit einer unglaublichen Selbstverständlichkeit die Therapien hinter sich gebracht hat“, sagt der Vater. Vielleicht ist es auch die Einstellung der Familie, die stets versucht hat, sich über die vielen kleinen positiven Dinge während der Zeit im Krankenhaus zu freuen. „Denn diese glücklichen Momente gibt es auch“, sagt der Vater.

Charlotte muss nun alle drei Monate zur Nachsorge

Inzwischen gilt Charlotte als krebsfrei. Sie geht längst wieder zur Schule, besucht den Schwimmkurs und hat das Schwimmabzeichen „Seepferdchen“ geschafft. Nachmittags trifft sie sich mit ihren Freundinnen zum Spielen. Das Thema Krebs spielt in ihrem Alltag kaum noch eine Rolle. „Sie ist eigentlich so, wie alle Siebenjährige in ihrem Alter“, sagt der Vater. „Zum Glück.“

Und doch wirkt die Erkrankung nach und bleibt ein Teil des Familienlebens: „Die Begleitung krebskranker Kinder und Jugendlicher hört mit dem Ende der Therapie nicht auf“, sagt die Stuttgarter Onkologin Claudia Blattmann. So wird Charlotte Zeit ihres Lebens zur Nachsorge gehen müssen. Im ersten Jahr nach Ende der Therapie finden die Kontrollbesuche noch monatlich statt, dann vierteljährlich. Im Jugendlichenalter muss Charlotte dann nur noch einmal pro Jahr ihre Werte prüfen lassen.

Kinder, die Krebs überstanden haben, müssen lebenslang zur Nachsorge

Die Kontrollen sind wichtig: „Zum einen muss beobachtet werden, ob der Krebs nicht wiederkehrt“, sagt Blattmann. „Zudem kann es aufgrund der intensiven Therapien zu Spät- und Langzeitfolgen kommen.“ Studien haben gezeigt, dass Menschen, die als Kind oder Jugendlicher an Krebs erkrankt waren, als Erwachsene ein erhöhtes Risiko haben, einen hohen Blutdruck und eine Fettstoffwechselstörung zu entwickeln. Darüber hinaus haben sie ein beinahe zweifach erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

Eine weitere Gefahr sind sogenannte Zweitkrebserkrankungen: Damit ist gemeint, dass Kinder und Jugendliche nach einer erfolgreich abgeschlossenen Krebstherapie Monate oder auch Jahrzehnte später an einem zweiten, anderen Krebsleiden erkranken können. „Innerhalb der Nachsorge können diese möglichen Folgen rechtzeitig erkannt und eine Behandlung so früh wie möglich begonnen werden“, sagt Blattmann.

Angst vor der Rückkehr des Krebs ist da

Die Leukämie ihrer Tochter hat die Familie verändert: Der Zusammenhalt sei stärker geworden, sagt der Vater. Gleichzeitig bräuchten sie als Eltern noch etwas Zeit, um die überstandene Erkrankung zu verarbeiten. „Wir schauen anders auf unsere Kinder, werden bei Kleinigkeiten schon hellhörig“, sagt die Mutter. Wenn die Tochter über Schmerzen im Bein klagt oder der Sohn etwas blässlich wirkt, dann taucht doch insgeheim die leise Frage auf: Ist das wirklich noch normal?

„Ich sage immer, ein Teil des Blutkrebs von Charlotte hat sich in unserem Gehirn festgesetzt“, sagt der Vater. Jetzt müssten sie lernen, den Spagat auszuhalten: Wachsam zu sein – ohne aber der Angst um die Gesundheit der Kinder zu viel Raum zu geben. „Aber wir schaffen auch das.“