Thomas Reusch-Frey ist SPD-Stadtrat in Bietigheim-Bissingen. Von 2011 bis 2016 saß er für die Genossen im Stuttgarter Landtag. Foto: privat

Der Bietigheimer Tag befasst sich in diesem Jahr mit dem Thema Respekt. Der Mitinitiator Thomas Reusch-Frey erklärt im Interview, warum.

Bietigheim-Bissingen -

Herr Reusch-Frey, beim Bietigheimer Tag geht es um das Thema „Respekt! Wege aus der zunehmenden Verrohung der Gesellschaft“. Woran machen Sie persönlich diese Verrohung fest?
Ein Aspekt ist sicher die Anonymisierung und die Vervielfältigungsmöglichkeit, die das Internet mit sich bringt. Als ich Abgeordneter im Landtag war, hatte ich die Federführung für einen Antrag, bei dem es um das Bestattungsrecht für Muslime und Juden ging. Dabei erlebte ich einen Shitstorm, wie ich ihn nicht für möglich gehalten hätte. Man solle mich auf einem Misthaufen beerdigen und meine Kinder sollten das Leichenwasser der Muslime trinken. Solche Anfeindungen kamen über entsprechende Plattformen. Man fragt sich: Wo hört die Sprache auf, und wo fängt die Tat an? Mit dieser Frage beschäftigen wir uns auch beim Bietigheimer Tag.
Bei den Podiumsdiskussionen ist der Sport sehr stark repräsentiert – ein Zufall oder lässt sich die Verrohung Ihrer Ansicht nach besonders am Sport festmachen?
Der Sport ist auf jeden Fall ein Seismograph für die Gesellschaft und wird auch als gesellschaftliche Größe wahrgenommen, an der sich dieses Thema festmachen lässt. Ich arbeite am Rotebühlplatz, und wenn ich sehe, mit welchem Aufgebot an Polizei in voller Montur die Fußballspiele der Stuttgarter Vereine flankiert werden und wie sich das bis in die Stadtmitte zieht, gibt mir das schon zu denken. Es ist uns wichtig, beim Bietigheimer Tag immer auch das Positive herauszustellen, in diesem Fall zum Beispiel zu zeigen, wie ein Fanbeauftragter auf seine Zielgruppe zu- und mit ihr umgeht. Bei der Gesprächsrunde am Samstag geht es dezidiert um Respekt im Sport, bei der Podiumsdiskussion am Sonntag streifen wir das Thema, mit Diskutanten aus Schule, Medien, Kirche und Polizei wird es um das gesamte Spektrum des Themas gehen.
Wer setzt für die Reihe die Themen?
Ein paritätisch zusammengesetztes Vorbereitungsteam aus SPD und evangelischer Gesamtkirchengemeinde Bietigheim. Themen waren zum Beispiel schon Arbeitswelt und Digitalisierung, Bildungsgerechtigkeit, Migranten, Frauenrechte oder Friedensarbeit. Wir hatten prominente und profilierte Redner zu Gast: Fritz Erler, Johannes Rau oder Gerhard Schröder.
Und dieses Jahr?
Für unser Thema kommt Oberbürgermeister Jürgen Kessing. Im Blick hatten wir auch Justizminister Heiko Maas, aber nach der Bundestagswahl haben Sondierungen und Koalitionsverhandlungen die Leute so gebunden, dass wir uns mit Berliner Prominenz schwer getan haben. Eine hochkarätige Podiumsbesetzung haben wir am 24. und 25. Februar trotzdem.
Dass Sozialdemokraten und evangelische Kirche für ein solches Forum gemeinsame Sache machen, ist ungewöhnlich. Vor fast 100 Jahren, als der Bietigheimer Tag aus der Taufe gehoben wurde, war es erst recht nicht selbstverständlich. Wie kam es dazu?
Der damalige Dekan Hans Völter war überzeugt, dass die Kluft zwischen der Arbeiterschaft und der Kirche nicht sein dürfe. Er wollte, dass die Kirche Solidarität mit den Arbeitern zeigt und Brücken zu bauen versucht. Das ist aus heutiger Sicht umso visionärer, als
die Kirche damals von landesherrschaftlichem Denken geprägt war. An gesellschaftskritische Positionierung wie heute war da nicht zu denken.
Heute ist das Verhältnis kaum noch konfrontativ. Warum ist das Format Bietigheimer Tag nach 97 Jahren noch relevant?
Weil sowohl SPD als auch Kirche wichtige gesellschaftliche Kräfte sind. Die Reihe will Impulse setzen und Ausblicke aufzeigen, und an Themen und Herausforderungen mangelt es uns wirklich nicht. Das merkt man auch am Besucherzuspruch.