Endlich wieder Konzerte – Das Publikum wurde von der Band The Notwist belohnt. Foto: Lichtgut/Ferdinando Iannone

Die Band The Notwist hat das Publikum im Stuttgarter Wizemann mit perfekter Stilvielfalt hypnotisiert und neben Altbekanntem auch ihr Lockdown-Album präsentiert.

Die Bühne im Wizemann ist gehüllt in tiefes blaues, kühles Leuchten. Überall aber, verteilt auf diese Bühne in unregelmäßigen Positionen, unterschiedlichen Höhen, das Kreisen von kleinen, warmen Lichtern, die ihrem eigenen, stoischen Rhythmus folgen. Eine fast mystische, in sich gekehrte Stimmung herrscht – ganz konzentriert auf ihre Musik wirken The Notwist, die am Montagabend in Stuttgart spielen, auf Einladung des Kulturzentrums Merlin nach Jahren in die Stadt zurückgekehrt sind.

Lange ließen sich The Notwist Zeit, für die Aufnahmen ihres Albums „Vertigo Days“ – es erschein im Frühjahr 2021, wurde ihr Lockdown-Album, entstand im Zusammenspiel mit Musikern aus Japan, Chicago, Argentinien, ermöglicht durch das Internet, brachte eine neue stilistische Öffnung, kletterte auf Platz sechs der deutschen Album-Charts und wurde zum bislang erfolgreichsten Album der Band aus Weilheim in Oberbayern.

Die Schülerband aus der Provinz

Weilheim ist ein Ort mit rund 23 000 Seelen, tief in der Provinz. The Notwist gründeten sich dort 1989 als Schülerband, spielten harte und einfache Musik, Punk und Metal. Sie verfeinerten ihren Stil, nahmen elektronische Elemente auf, verbanden sie mit dem naturalistischen Klang von Vibrafon, Percussion, Blechblasinstrumenten: Kälte, Wärme auch hier, starke Kontraste, die die Musik bestimmen. Mit „Neon Golden“, ihrem Album von 2002, kam der Durchbruch, der Einzug in die deutschen Albumcharts. Heute sind sie, aus internationaler Perspektive, Deutschlands bedeutendste Independent-Band.

Und sie beginnen ihr Konzert ohne Umschweife. Einen Dialog mit dem Publikum gibt es bei ihnen nicht – irgendwann tauchen diese sechs Männer in bunten T-Shirts auf, aus ihrer Trance, treten an den Bühnenrand, verbeugen sich, treten ab, kehren wieder, spielen weiter, gewiss noch einmal so lange wie zuvor. Ist dies die Zugabe, oder war nur eben Pause?

Mehr als zwei Stunden lang erlebt das Publikum im Wizemann wie The Notwist sich versenken in ihr Spiel, ihre Interaktionen, ihre schillernde, stets veränderliche, energievolle Musik. Etwa 700 Menschen sind gekommen, füllen den Saal zu mehr als zwei Dritteln - und tragen überwiegend eine Maske, tanzen mit einer Maske.

Von der Ekstase ins Idyll

Rund um The Notwist entstand in Weilheim eine regionale Musikszene; die Mitglieder der Band selbst wurden in zahlreichen anderen Zusammenhängen aktiv. Musiker, die sonst mit harten Gitarren, elektronischen Effekten arbeiten, treten dabei auch ganz zünftig auf als „Die Hochzeitskapelle“, mit Bratsche, Posaune, Tuba und Fiddel – im vergangenen Jahr, als The Notwist in Reutlingen gastierten, konnte man das dort erleben, am Lagerfeuer. Im Wizemann steht nun am Rande der Bühne ein Sousafon bereit, das größte aller Instrumente im tiefen Blech, beliebt in der volkstümlichen Musik, und wartet darauf, dass Micha Acher seinen E-Bass zur Seite stellt und diesen vollen Klang in die Musik einfließen lässt.

Micha Achers Spiel auf dem Bass gehört zu den prägnantesten Momenten im Sound von The Notwist: Immer wieder tauchen die schweren, melodischen Linien, denen er folgt, auf, im eng verzahnten Zusammenspiel von Schlagwerk, Gitarre, Elektronik, tauchen wieder unter, werden überlagert von wilden Ausbrüchen der Gitarren, Noise-Effekten, harten Technobeats, die das Publikum in eine Ekstase hineinreißen und es dann urplötzlich versetzen in ein Idyll, in dem nur das Vibrafon seine leisen, minimalistischen Muster webt.

Ihr Hit von epischer Länge kommt zum Schluss

The Notwist beherrschen diese Dramaturgie perfekt: Ihre Musik jongliert mit Dynamiken, Gegensätzen. Sie vereint die motorischen Grooves des Krautrock der späten 1970er Jahre mit der komplexen Energie des Postrock der 1990er, lässt schlichte, treibende Gitarrenriffs aus diesem Hexenkessel ausbrechen, lässt sie aufgehen in einfachen, schönen Melodien.

Dann steht Markus Acher, Sänger und Gitarrist, am Mikrofon und singt, zerbrechlich fast, verträumt.

Und dann wieder schwebt ein Elektroklang schwirrend, sirenengleich im Raum, die Lichter tanzen auf der nun dunklen Bühne, und The Notwist wagen sich vor in Bereiche, die dem Free Jazz nicht fern sind – frenetische Ausbrüche des Schlagzeugs, Kleinpercussion, elektronische Dissonanz, dazu das Sousaphon, das Vibraphon, das seine Muster abschreitet, die Gitarre, die Splitter spuckt.

„Pilots“ von „Neon Golden“, fast ein Hit, wird im Wizemann zu einem Epos ausufernder Improvisation, einem Stück, das über fast 20 Minuten hin sein Gesicht verändert, sich vom freundlichen Popsong in ein gewaltiges Monster verwandelt und zurück – wieder singt Markus Acher ganz ruhig, fast kindlich von einem, der davon träumt, zu fliegen: „If only he’s the pilot / one day“.

Die Band

Gründung
The Notwist wurden 1998 gegründet von Markus Acher (Gitarre, Gesang), Micha Acher (Bass) und Martin Messerschmidt am Schlagzeug, 2007 ersetzt durch Andreas Haberl. Auf der Bühne werden sie unterstützt von Max Punktezahl (Gitarre, Keyboard), Karl Ivar Refseth (Vibraphon) und Christoph Beck (Elektronik, Gitarre, Keyboard).

Musik
 The Notwist spielten Soundtracks zu Filmen von Hans-Christian Schmid ein („Sturm“, „Was bleibt“, zuletzt die ARD-Produktion „Das Verschwinden“, 2017) und veröffentlichte bislang elf Alben.