Riccardo Chailly und das Gewandhausorchester Foto: Gert Mothes

„Da wird nicht mehr Violine gespielt, sondern Violine gezaust, gerissen, gebläut.“ So urteilte einst ein Kritiker bei der Uraufführung von Taschaikowskys Violinkonzert. Auch nach dem Stuttgart-Gastspiel des Gewandhausorchesters mit dem Geiger Julian Rachlin muss man sagen: Schön klingt anders.

Stuttgart - Tschaikowskys Violinkonzert verlangt körperliche Höchstleistung – wegen seiner Länge, der Dichte an technischen Schwierigkeiten, seines hohen Anspruchs an die Gestaltungskraft. Wie die Wiener Uraufführung 1881 geklungen hat und ob der Geiger Adolph Brodsky damals die nötige technische Souveränität besaß, um sich entspannt der Interpretation zu widmen, können wir heute nur erahnen.

Der gefürchtete Kritiker Eduard Hanslick, der ihr beiwohnte, fand jedenfalls keine gnädigen Worte: „Da wird nicht mehr Violine gespielt, sondern Violine gezaust, gerissen, gebläut.“ Interpretations- oder Werkkritik? Wohl beides, denn Hanslick konstatierte, er wisse zwar nicht, ob es überhaupt möglich sei, „diese haarsträubenden Schwierigkeiten rein herauszubringen“, sehr wohl aber, „dass Herr Brodsky, indem er es versuchte, uns nicht weniger gemartert hat als sich selbst“.

Beim Konzert des Leipziger Gewandhausorchesters, das am Freitagabend unter der Leitung seines Chefdirigenten Riccardo Chailly im Rahmen seiner mehrwöchigen Europatournee im gut besuchten Beethovensaal gastierte, wagte sich der aus Litauen stammende und in Wien lebende Violinvirtuose Julian Rachlin an das Werk, das trotz seines hohen Anspruchs zu den meistgespielten Violinkonzerten gehört. Schließlich haben es ja einige Geiger und Geigerinnen vorgemacht, dass es durchaus geht: eine souveräne Balance zu finden zwischen Virtuosität und klangschönem Ausdruck.

Exakt wie eine Maschine ratterten die Springbogensalven

Julian Rachlin sah man freilich das Schuften an: Immer wieder blies er die Backen auf, sein Körper stand so unter Spannung, dass er sich leicht nach hinten bog. In den schnellen Außensätzen riss er die Saiten mit dem Bogen an, dass man sich wundern musste, dass keine Funken sprühten, an denen die Geige sich hätte entzünden können. Rasend schnell liefen die Finger über die Saiten, und exakt wie eine Maschine ratterten die Springbogensalven.

Kaum Zeit gönnte sich der 40-Jährige, mal ins Orchester hineinzuhören – was dem Abend gutgetan hätte in puncto Genauigkeit des Zusammenspiels und gegenseitigem Reagieren auf Klangfarben. So unter Druck setzte Rachlin seine Stradivari, so eng, so klebrig phrasierte er, dass sie gelegentlich heiser wurde, und vor allem in der hohen Lage, in der sich Violinkonzerte naturgemäß häufig aufhalten, intonatorisch zu zicken begann, bis die Ohren bluteten.

Schön klingt anders. Wenigstens im kurzen langsamen Mittelsatz, der „Canzonetta“, einem „Lied ohne Worte“, fand er zu jener souveränen Ruhe, die nötig ist, um die Geige wirklich zum Klingen zu bringen.

Der Solist machte sein eigenes schrilles Ding

Interessant wäre es nun gewesen, wenn das Orchester auf diese eher geräuschhafte als ebenmäßige und tonschöne Herangehensweise Rachlins, die man als sehr schroff und gewagt verteidigen könnte, reagiert hätte. Dafür wäre aber eine transparente, bewegliche Umsetzung der Partitur nötig gewesen. Doch das Gewandhausorchester in großer Besetzung frönte routiniert und schwerblütig seinem dunkel-homogenen, streichersatten Klang, für den die bedeutenden Orchester Mitteldeutschlands ja berühmt sind, und der Solist machte sein eigenes schrilles Ding. Das wollte einfach nicht zusammengehen.

Das Gewandhausorchester – eines der ältesten Orchester in Deutschland und mit 185 Planstellen das größte – pflegt einen erdfarbenen, homogenen Streicherton, der sich über sattem Bass aufbaut, der durch herrliche Holzbläser-Vokalisen und funkelnd-brillante Blechbläserchöre ergänzt wird.

Zu Rachmaninows zweiter Sinfonie passte das trefflich: ein ganz schöner Brocken in ihrer satt schwelgenden spätromantischen Harmonik und ihrem weit ausholenden süffigen Melos. Eine Stunde lang seufzt, klagt und weint es in großen Schüben. Traurige Gesänge münden in orgiastische, schicksalsschwangere Steigerungen und entladen sich immer wieder in Fortissimo-Klangauftürmungen.

Einen langen Atem braucht man da als Dirigent, um dem epischen Fluss eine formale Logik zu verpassen und die Schlusspunkte, die auch Rachmaninow naturgemäß irgendwann setzen musste, als zwingende Konsequenz erscheinen zu lassen. Riccardo Chailly zeigte sich hier als souveräner Dirigent, der den großen Bogen stets im Blick behält, dem Orchester aber die Freiheiten lässt, die zur klangeuphorischen Entfaltung bis zur Ekstase nötig sind. So verfehlte die Sinfonie ihre Wirkung nicht, und das Publikum war hörbar begeistert.