Yuval Weinberg bringt zeitgenössische Chormusik auf so spielerische wie zupackende Weise dem Publikum nahe. Foto: Klaus J.A. Mellenthin

Intensität auf Abstand: Das SWR Vokalensembles hat in den Wagenhallen unter seinem neuen Chefdirigenten Yuval Weinberg sein erstes Konzert nach der Coronapause gegeben.

Stuttgart - Singen ist gefährlich in Coronazeiten. Masseninfektionen innerhalb von Chören zu Beginn der Epidemie ließen schon ahnen, was nun wissenschaftlich belegt ist: bis zu eineinhalb Meter können sich Aerosolwolken durch das Singen ausbreiten, wobei vor allem bei Konsonanten die Spucketeilchen besonders weit getragen werden.

Abstandhalten lautet also das oberste Gebot, und so waren die Sänger des SWR Vokalensembles bei ihrem ersten Konzert nach der Coronapause weiträumig auf der Bühne der Wagenhallen verteilt. Drei Meter zu jeder Seite und sechs Meter nach vorne, so lauten die Vorgaben, was den Abstand von einem Sänger zum nächsten und zum Dirigenten betrifft. Chorische Literatur, so erklärte die SWR-Redakteurin Dorothea Bossert, die souverän moderierend durch den Abend führte, kam unter solchen Bedingungen nicht in Frage. Also entschied man sich für solistisch besetzte Werke unterschiedlicher Epochen und Stilrichtungen, zu der die Sänger des Vokalensembles nach einer ausgeklügelten, coronaregelgerechten Dramaturgie immer wieder den Platz wechseln mussten.

Die Comedian Harmonists lassen grüßen

Und da das solistische Prinzip auch den Publikumsbereich dominierte – jeder der um die fünfzig Besucher hatte nur ein kleines Holzkistchen mit Platznummer neben sich stehen – wohnte dem Setting schon optisch ein theatralisches Moment inne, das von den Veranstaltern durch einen dramaturgischen Kunstgriff weiter zugespitzt wurde. Der designierte neue Chefdirigent Yuval Weinberg, der das Konzert auch leitete, hatte die Idee, das Ganze als Spiel aufzuziehen, und so erhielt jeder Besucher anstelle eines Programms einen kleinen Kartenstapel mit Symbolen auf der einen und einer Werkbezeichung auf der anderen Kartenseite. Nach jedem Programmpunkt bat Dorothea Bossert einen Besucher nach vorne, damit dieser mit der Auswahl eines Symbols auch das jeweils nächste Stück bestimmte.

Los ging es mit Requiem und Gloria aus Giacinto Scelsis „Tre canti sacri“, einem auratischen Werk des avantgardistischen Sonderlings, dessen mikrotonale Verdichtungen und dissonante Ausbrüche die Sänger mit schwer zu übertreffender Intensität in Klang setzten. Als größtmöglichen Gegensatz ließ die Zufallsdramaturgie Hans Chemin-Petits Vertonung des ringelnatzschen „Briefmark“ folgen, die vor allem in der verdoppelten Singgeschwindkeit – ein kleiner geplanter Gag, nachdem ein Besucher einen „Joker“ gezogen hatte – durchaus an die Comedian Harmonists erinnerte.

Derart stilistisch vielgestaltig ging es, sängerisch auf höchstem Niveau, weiter. Mit (fast) heiterem Ligeti, sehr innigem Mendelssohn, flippig-performancehaftem Berio - und mit zwei überaus reizvollen Sätzen der amerikanischen Komponistin Caroline Shaw zum guten Schluss, die deutlich machten, dass sich Zugänglichkeit und Anspruch bei zeitgenössischer Chormusik nicht ausschließen müssen.