Joan Laplana, der vor 17 Jahren aus Spanien nach England kam, warnt in London auf einer Demonstration vor den Brexit-Folgen. Foto: AFP

Millionen EU-Bürger in Großbritannien befürchten, durch den Brexit herabgestuft zu werden und bei einem Scheitern der Verhandlungen ganz die Koffer packen zu müssen. Betroffene erzählen, wie sie mit der Ungewissheit leben.

London - An den Tag, an dem ihm „so richtig klar wurde, was Brexit bedeutet“, erinnert sich Joan Laplana genau. Es war der Tag, an dem seine kleine Tochter weinend aus der Schule kam. Jemand hatte auf dem Schulhof zu ihr gesagt: „Dein Vater muss nächstes Jahr das Land verlassen und darf nicht mehr zurückkehren.“ Dann sah sie den Vater bang an: „Ist das wirklich wahr?“ – „Dazu konnte ich weder mit Ja noch mit Nein antworten“, sagt Laplana, „weil ich es auch nicht wusste.“

Die britische Entscheidung zum Austritt aus der EU hat dem spanischen Familienvater und rund 3,2 Millionen anderen in Großbritannien lebenden EU-Bürgern nun schon ein volles Jahr fataler Ungewissheit beschert. Noch heute, zwölf Monate nach dem Referendum, rätseln die Betroffenen darüber, ob sie nach dem Brexit weiter im Vereinigten Königreich bleiben dürfen – und wenn ja, zu welchen Bedingungen und mit welchen Garantien. Welche Rechte EU-Bürger in Großbritannien letztlich haben – das ist eine der zentralen Fragen, um die es bei der zweiten Runde der Brexit-Verhandlungen geht, die am Montag begonnen haben.

Die Vorstellungen der EU gegen die Pläne der britischen Regierung

Für die Post-Brexit-Ära hat die Europäische Union ihnen volle Bürgerrechte und komplette Bewegungsfreiheit in der EU angeboten. Das Angebot Londons nimmt sich dagegen bescheidener aus: Wer weiter bleiben will, muss fünf Jahre „kontinuierlich“ in Großbritannien gelebt haben und einen Antrag auf permanentes Wohnrecht stellen. Wer dieses Recht zugesprochen bekommt, behält den Zugang zum Bildungs-, Gesundheits-, Sozial- und Rentensystem des Landes. Der Status als „Angesiedelter“ („settled status“) verlangt allerdings, dass man sich registrieren lässt.

Wer das Land für mehr als zwei Jahre verlässt, verliert den Anspruch auf Bleiberecht. Und Familienangehörige, die nach dem Brexit ins Land kommen, sollen ähnlichen Auflagen unterliegen wie die Nichteuropäer schon jetzt. Keine Garantie soll es jedoch dafür geben, dass der „settled status“ in dieser Form in Zukunft erhalten bleibt. Künftige britische Regierungen könnten alles wieder nach Belieben ändern.

Hart gearbeitet für das britische Gesundheitssystem

Laplana war zur Millenniumswende von Spanien nach England gezogen, um im nationalen Gesundheitswesen, dem National Health Service (NHS), als Pfleger zu arbeiten. Der 42-Jährige wohnt in Chesterfield und ist mit einer Britin verheiratet. Die Kinder der beiden sind fünfzehn, zwölf und fünf Jahre alt. In einem der damals besten Gesundheitsdienste der Welt mit seiner multikulturellen, multinationalen Belegschaft sei es leicht für ihn gewesen, sich zu integrieren. „Ich habe hart gearbeitet und 17 Jahre lang meine Steuern bezahlt“, sagt Laplana – und mit einem Mal werde er gefragt, warum er denn nicht „nach Hause“ gehe. Aber Spanien sei überhaupt nicht mehr sein Zuhause. „Gut, ich habe einen spanischen Pass. Aber ich habe fast mein ganzes erwachsenes Leben hier in Großbritannien verbracht. Ich lebe hier. Meine Kinder sind britisch. Ich betrachte Britannien als mein Land.“

„Die spielen mit meinem Leben“

Laplana ärgert es, dass nach all den Jahren plötzlich sein Akzent, seine Herkunft eine Rolle spielen. Und dass er und all die anderen „Kontinentalen“ auf einmal für alles verantwortlich gemacht würden – für die Probleme des Landes, für die Krise des NHS. Was ihn angesichts des Personalmangels im Gesundheitssystem verwundert, ist die Naivität vieler Einheimischer, die sich von Abgrenzung gegenüber dem Kontinent die Lösung aller Probleme versprechen. „Die letzten zehn Jahre über war der NHS schon ganz auf die Europäer angewiesen“, sagt Laplana. „Jetzt beginnen sie auszubleiben, weil Premierministerin May ihnen zu verstehen gibt, dass sie hier nicht mehr willkommen sind. Kollegen von mir bereiten die Abreise vor.“

Laplana fühlt sich „betrogen“. Seinerzeit habe man ihn geradezu gedrängt, nach Großbritannien zu kommen: „Sie haben verzweifelt nach Pflegern gesucht. Sie haben mir gesagt, ich könne hier arbeiten, ich könne mich hier ansiedeln, ich könnte mir meinen Traum erfüllen.“ Plötzlich wandelt sich der Traum in einen Albtraum: „Die spielen mit meinem Leben.“

Forscher sehen ihre Arbeit gefährdet

Auch Alexandrine Kantor plagt die Ungewissheit. Die 29-Jährige kommt aus Straßburg und arbeitet seit drei Jahren nahe Oxford, an einem Atomenergieprojekt. „Es geht um die nächste Generation von Atomkraftwerken, um Atomenergie-Gewinnung ohne Schädigung der Umwelt, um etwas, was im Einklang steht mit der Pariser Umweltvereinbarung. Aber leider ist das alles nun in Gefahr.“ Denn diese Arbeit an der Front technologischer Entwicklung wird getragen von Euratom, der europäischen Atombehörde. Und die Regierung May hat klargemacht, dass ihr Land im Zuge des Brexits auch aus Euratom ausscheiden soll. „Von dieser Ungewissheit sind wir alle betroffen.“ Zahlreiche Wissenschaftler vom Kontinent sind an dem Projekt beteiligt. Der bevorstehende Brexit hat die Forschung auf der Insel in Schwierigkeiten gebracht.

„Was passiert jetzt als Nächstes mit mir?“

Aber auch sonst hasst Alexandrine Kantor die Unsicherheit, in der sie schwebt – wie die meisten EU-Bürger auf der Insel. „Ich habe keine Familie hier. Ich bin hierhergekommen, weil ich mir im Vereinigten Königreich ein besseres Leben, bessere Berufsaussichten erhofft habe.“ Die junge Forscherin liebt ihren Job. Für die Finanzierung ihrer Wohnung hat sie eine Hypothek aufgenommen. Angesichts der aktuellen Lage weiß sie nicht, ob sie die Hypothek behalten kann oder ob sie wieder ausziehen muss. „Und was passiert jetzt als Nächstes mit mir?“

Auch dass sie nun nicht mehr ohne Weiteres planen kann, zum Beispiel die Gründung einer Familie in England, empfindet Alexandrine Kantor als bedrückend. Nach den Vorstellungen der britischen Regierung muss sie fünf Jahre praktisch ununterbrochen im Land gelebt haben, um sich für eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung zu qualifizieren. Bisher kommt sie nur auf drei Jahre. Was aber werde in den nächsten zwei Jahren geschehen? „Werde ich das Land noch verlassen können, um nach meinem Vater in Straßburg zu sehen? Wird er denn noch hierherkommen können, wenn Großbritannien die EU verlässt?“

Angriffe gegen die größte Einwanderergruppe

Ein erhebliches Maß an Entfremdung hat die Unklarheit geschaffen – das beobachtet Joanna Mludzinska, die Direktorin des Polnischen Zentrums in Hammersmith, einem Stadtteil im Westen Londons. Als größte europäische Einwanderergruppe haben die fast 900 000 Polen auf der Insel in der Folge des Referendums mit den übelsten Attacken zu kämpfen: Gehässige Kommentare, tätliche Angriffe mussten sie erdulden. Flugblätter mit der Aufschrift „Haut ab, ihr polnisches Ungeziefer“ wurden durch Briefkastenschlitze geschoben. Die Fassade des Polnischen Zentrums wurde mit hässlichen Graffiti-Bildern beschmiert.

Joanna Mludzinska erinnert sich sehr wohl an diese „betrüblichen Dinge“ – streicht aber auch die Solidaritätsbekundungen vieler Briten zu jener Zeit heraus. Umso problematischer ist es heute für sie, dass noch immer keine Lösung gefunden worden ist für EU-Bürger in Britannien, dass noch immer „solche Unklarheit herrscht“. In einer zunehmend gespaltenen britischen Gesellschaft fühlten sich manche Polen nicht mehr zu Hause. Es sei wohl wahr, dass in den vergangenen Monaten mehr ihrer Landsleute Großbritannien verlassen hätten und weniger als früher auf die Insel zögen.

„Jeder hofft, dass sich alles irgendwie löst“

Von einem „drastischen Schwund“ an Polen ist in der britischen Presse die Rede. Genaue Statistiken gebe es nicht, und über die Motive Einzelner könne man nur spekulieren, meint Joanna Mludzinska. Sie gibt allerdings zu, dass für viele Polen das neue Klima und die bedrohliche Ungewissheit den entscheidenden Anstoß zur Abwanderung gäben: „Manche denken: Ich habe gut verdient, habe mir etwas auf die Seite gelegt. Jetzt kann ich genauso gut meine Koffer packen und wieder nach Hause ziehen.“ Schwieriger sei es „für all diejenigen, die Familien gegründet, die vielleicht eine Wohnung oder ein Haus gekauft haben, die sich hier ansässig fühlen“. Sie warteten offensichtlich erst einmal ab, was weiter passiert. Und wenn es überhaupt keinen Deal gibt? Wenn die Verhandlungen in Brüssel scheitern sollten? „Ich glaube, jeder versucht nach Kräften, an so etwas nicht zu denken. Jeder hofft nur, dass sich alles irgendwie von selbst lösen wird.“

Der Schock nach dem Referendum

Für Axel Antoni ist das Ergebnis des Referendums ein Schock gewesen. Am Morgen nach der Abstimmung stand für ihn die Welt kopf: „Ich bin durch die Straßen gegangen, habe den Leuten ins Gesicht geschaut und mich gefragt: Bin ich nun noch willkommen hier oder nicht?“ Und auch er hatte den „großen Tieren“ der Brexit-Riege vertraut, Leuten wie dem heutigen britischen Außenminister Boris Johnson, die vor dem Referendum versichert hatten, für EU-Bürger in Großbritannien werde sich nichts ändern. Wenig später dämmerte es Antoni, dass es da „ein echtes Problem gab, für das niemand eine Lösung hatte“ – und zwar als die 3,2 Millionen erstmals zu „bargaining chips“ wurden, zu einem politischen Unterpfand, erklärt Antoni: „Da haben sie uns zu verstehen gegeben, dass sie uns zur Verhandlungsmasse machen und unsere Rechte vielleicht einschränken.“

Die Regierung will das Formular vereinfachen

Seit 18 Jahren ist der deutsche Firmenberater in England zu Hause. Er hat hier studiert, vor zehn Jahren eine Britin geheiratet, die Kinder sind fünf und acht Jahre alt. „Meine Kinder sind mir einen Schritt voraus“, sagt er. „Sie haben britische Pässe.“ Er selbst hat sich kürzlich durch das 85-Seiten-Antragsformular für den Daueraufenthalt gequält, das bisher nur Nicht-EU-Bürger ausfüllen mussten: „Seit März warte ich auf Bescheid.“ Alle 150 000 Europäer, die es wie Antoni gemacht haben, die sich absichern wollten, dürfen nun das Ganze noch einmal wiederholen und auch eine zweite Gebühr entrichten. Denn die Regierung will ein neues, einfacheres Formular für EU-Bürger herausgeben.

Was hält er von dem „großzügigen“ Angebot Mays, wie die Premierministerin es nennt? „Es ist ein Minimalangebot mit zeitlicher Begrenzung“, sagt Antoni verbittert. Offenbar solle man dankbar dafür sein, dass man nicht ausgewiesen oder vom Sozialsystem abgeschnitten werde. Allerdings könne man nicht einmal sicher sein, dass es dabei auch bleibe: „Ohne internationalen Schutz stehen wir vollkommen schutzlos da.“ Das, meint Antoni, lehre ein Blick auf die Lage der zugewanderten Commonwealth-Bürger: „Deren Rechte sind seit 1962 immer mehr eingeschränkt worden, erst langsam, dann immer schneller. Und sie haben keine Gerichtsbarkeit, die ihnen Schutz gewährt.“ Nun sollten die EU-Bürger „auf das gleiche niedrige Niveau heruntergezogen werden“. Kein Wunder, dass es an Vertrauen in die britische Politik, in die Regierung fehle – den 3,2 Millionen Europäern im Lande, ihren vielen britischen Angehörigen ebenso wie der EU. Bargaining chips? Unerwünschte Ausländer? Antoni kann es nicht fassen, wovon jetzt die Rede ist: „Wir alle sind hierhergekommen, ohne dass einer von uns gedacht hat, dass so etwas passieren könnte.“