32 Wohngemeinschaften von Einheimischen und Flüchtlingen gibt es bisher in Deutschland (wie hier im Bild in Darmstadt) – auch ein Mann aus Konstanz engagiert sich: Er teilt seine Wohnung mit einem Iraker Foto: dpa

Zum Jahresbeginn hat Johann Schmidt aus Konstanz einen neuen Mitbewohner gesucht. Eingezogen ist Samir Khery, ein irakischer Flüchtling. Vermittelt hat die Initiative „Wir heißen Flüchtlinge Willkommen“. 32 Erfolgsfälle gibt es bisher. Die WG von Schmidt und Khery ist der einzige in Baden-Württemberg.

Konstanz - Bei Johann Schmidt, oberster Stock eines Mehrfamilienhauses im Konstanzer Westen, ist ein Außerirdischer eingezogen. Das dachten zumindest die Nachbarn. „Eine Frau aus dem Haus hat mich angestarrt wie ein Alien“, sagt Samir Khery, der seit Jahresbeginn in dem großen Haus wohnt.

Der neue Mitbewohner kommt nicht vom Mars, sondern aus dem Irak. Johann Schmidt weiß das. Dennoch hatte auch er am Anfang Angst vor den Veränderungen, die gemeinsam mit Samir Khery – der eigentlich anders heißt – Einzug in seine Wohnung halten würden: „Darf ich dann kein Schnitzel mehr essen? Keine Freunde mehr zum Grillen einladen?“ Diese Gedanken gingen Schmidt durch den Kopf, als er Khery das erste Mal traf. Das war nur zwei Wochen vor dem geplanten Einzug.

Auf den ersten Blick sah Schmidt in dem jungen Iraker vor allem eines: einen Partylöwen. „Vielleicht, weil er bei dem Treffen eine Lederjacke trug“, sagt Schmidt. Khery fragte: „Wie hältst du es mit Besuch?“ Schmidt dachte: „Oh Gott, der will bestimmt jedes Wochenende eine ganze Meute anschleppen.“ Dennoch hielt Schmidt an seinem Entschluss fest: Im leeren Zimmer soll ein Flüchtling wohnen.

Seit dem ersten Januar 2015 leben Schmidt – 33 Jahre, Erzieher in einem Kinderhaus, ursprünglich aus Heidenheim – und Khery – Anfang 20, vor fünf Jahren nach Deutschland geflüchtet aus einem kleinen Ort im irakischen Kurdistan – nun zusammen. Sie teilen sich eine helle Drei-Zimmer-Wohnung.

Er hat sich nicht als „Bombenleger“ entpuppt

Inzwischen hat Schmidt einiges über seinen neuen Mitbewohner gelernt: Khery juckt es nicht die Bohne, wenn Schmidt auf dem Balkon ein Schweinesteak auf den Grill legt. Khery geht viel seltener feiern als Schmidt selbst. Und er hat sich nicht, wie eine Freundin von Schmidt gewarnte hatte, als „Bombenleger“ entpuppt.

An einem regnerischen Nachmittag lehnen die beiden jungen Männer entspannt an der Wand im Flur ihrer Wohnung. In den vergangenen Stunden haben sie der Besucherin jedes Zimmer gezeigt, ihr geduldig erklärt, was für die beiden längst Alltag geworden ist und ihnen offenbar nicht weiter erwähnenswert scheint: Ja, manchmal kochen sie zusammen. Nein, Streit gebe es kaum – uneinig sind sie sich nur, wie es in Kherys Leben weitergehen soll. „Alter, du solltest echt eine Ausbildung machen“, sagt Schmidt. Aber Khery will lieber gleich Geld verdienen. Ja, Schmidt würde alles noch mal genau so machen, wenn es wieder Herbst 2014 wäre. Und Khery sowieso.

„Man kann das hier überhaupt nicht mit der Situation vorher vergleichen“, sagt der junge Mann aus dem Irak. Vorher hat er in einer Sammelunterkunft für Flüchtlinge in der Konstanzer Steinstraße gewohnt, sich bis auf kurze Unterbrechungen ein Zimmer mit anderen geteilt. Jetzt hat er – zum ersten Mal in seinem Leben – ein eigenes. „Hier ist es viel besser“, sagt Khery. Die meiste Zeit meidet der schwarzhaarige Mann mit Brille jeden Blickkontakt. Aber jetzt huscht ihm ein Lächeln durchs Gesicht.

Über die Plattform „Flüchtlinge Willkommen“ zueinander gefunden

32 Wohngemeinschaften wie die von Schmidt und Khery gibt es in Deutschland. Die Bewohner haben über die Plattform „Flüchtlinge Willkommen“ zueinander gefunden. Mareike Geiling, eine junge Frau aus Berlin, hat das Projekt vor rund einem halben Jahr mit zwei Bekannten gegründet – weil sie selbst einen Zwischenmieter für ihr WG-Zimmer suchte und gerne einen Flüchtling einziehen lassen wollte.

Nach dem Start der Internetseite wurde deutlich: Viele Menschen wollen Flüchtlingen ein Zuhause bieten. 980 WGs haben sich bisher registriert. „Von 20 bis 65 Jahren, von der Kinderärztin bis zum Rentner ist alles mit dabei“, sagt Geiling. Außerdem haben sich viele Flüchtlinge angemeldet, obwohl das Formular auf der Internetseite zuerst eigentlich nur für WGs gedacht war.

„Wir waren selbst überrascht, dass sich die Seite auch unter Flüchtlingen so schnell rumgesprochen hat“, sagt Geiling. Mittlerweile hat das Team ein zweites Formular für Flüchtlinge eingerichtet, die nach einem WG-Zimmer suchen.

So ein Netzwerk aufzubauen, ist aufwendig

Die Vermittlung zwischen WGs und Geflüchteten läuft heute fast ausschließlich über die Datenbank des Projekts. Zwar will die Gruppe weiterhin ihren Kontakt zu Sozialarbeitern in den Unterkünften verstärken. „Aber so ein Netzwerk aufzubauen, ist aufwendig“, sagt Geiling. Umso besser also, dass viele Vermittlungen auch allein über die Datenbank klappen.

Die zahlreichen Reaktionen auf die Webseite zeigen, wie groß die Nachfrage unter Flüchtlingen ist. Der Weg heraus aus der Sammelunterkunft in eine private Wohnung ist für viele schwierig – auch dann, wenn sie als Flüchtlinge anerkannt wurden und damit für mindestens drei Jahre in Deutschland bleiben dürfen.

Besonders in Städten wie Konstanz mit einem ohnehin angespannten Wohnungsmarkt ist die Suche mühsam. „Je dunkler, desto schwieriger“, sagt die Konstanzer Integrationsbeauftragte Elke Cybulla: So hingen die Hautfarbe des Bewerbers und die Aussicht auf eine Wohnung zusammen. „Man kann es leider so knapp auf den Punkt bringen.“ Zudem seien viele Flüchtlinge jung und männlich – keine besonders beliebte Kombination bei Vermietern. Khery hat nach eigenen Angaben rund zwölf Wohnungen besichtigt und Absagen erhalten, weitere zehn Vermieter hätten ihn direkt am Telefon abgewiesen. Dabei hat Khery den Vorteil, dass er fließend deutsch spricht.

Die Wohnungssuche ist ein "Riesenproblem"

Mit weniger Sprachkenntnissen sei die Suche noch schwieriger, sagt Katharina Vogt. Sie ist Referentin für Flüchtlingspolitik bei der Arbeiterwohlfahrt. „Die Wohnungssuche ist ein Riesenproblem. Manche anerkannte Flüchtlinge landen in Heimen für Wohnungslose, weil sie nichts finden.“

Wer als Flüchtling gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt wurde oder sogenannten internationalen subsidiären Schutz bekommt – zum Beispiel weil bei Abschiebung im Heimatland die Todesstrafe droht – hat ein Recht auf reguläre Sozialleistungen in Deutschland. In diesen Fällen zahlt das Sozialamt eine angemessene Miete, wenn Flüchtlinge privat eine Wohnung oder ein Zimmer finden und die Miete nicht selbst bezahlen können. Ob dagegen auch solche Asylbewerber aus der Sammelunterkunft ausziehen dürfen, deren Asylverfahren noch läuft, ist in jedem Bundesland anders geregelt.

Zwar hätten die Länder laut Awo-Referentin Vogt die Freiheit, den Umzug in eine private Unterkunft auch während des laufenden Verfahrens zu erlauben. Immerhin dauert ein Asylverfahren laut Bertelsmann Stiftung durchschnittlich noch immer rund sieben Monate, für Afghanen sogar 17 und für Pakistanis rund 18 Monate.

Trotzdem müssen Asylbewerber in vielen Bundesländern bis zum Ende des Verfahrens in der Sammelunterkunft bleiben. In Bayern und Baden-Württemberg dürfen sie während des laufenden Verfahrens nur dann ausziehen, wenn ihr Lebensunterhalt gesichert ist, zum Beispiel durch ein regelmäßiges Einkommen oder Privatvermögen. Für Geduldete – Asylbewerber, deren Antrag abgelehnt wurde und deren Abschiebung zum Beispiel wegen Gefahr im Heimatland aufgeschoben wird – gelten wieder andere Regeln.

"Füllen mit unserer Arbeit eine Lücke, für die eigentlich der Staat zuständig wäre"

Orientierung in diesem Wirrwarr aus Gesetzen bietet das Team von „Wir heißen Flüchtlinge Willkommen“. Sie beraten WGs und Flüchtlinge, die sich auf der Internetseite registrieren. Damit das Projekt dauerhaft weitergeführt werden kann, sind Geiling und ihre Kollegen auf Spenden angewiesen. Das Projekt sei für sie mittlerweile zum Vollzeitjob geworden, sagt Geiling – aber ohne ein entsprechendes Einkommen. Mittlerweile leite ihnen sogar das Evangelische Jugend- und Fürsorgeamt in Berlin die WG-Anmeldungen, die dort eingehen, zur Bearbeitung weiter. „Wir füllen mit unserer Arbeit eine Lücke, für die eigentlich der Staat zuständig wäre – aber ohne Geld dafür zu bekommen“, sagt Geiling

Ohne das Engagement ihres Teams würde Samir Khery in Konstanz heute wahrscheinlich immer noch in der Sammelunterkunft leben. An die Zeit dort erinnert er sich nicht gerne. Oft habe er die Sprache seiner Zimmernachbarn nicht gesprochen. Ein Mal habe es tagelang kein warmes Wasser gegeben. Wenn er das Zimmer wechseln musste oder nicht mit anderen Irakern eines teilen durfte, sei das nie begründet worden, sagt Khery.

Jammern auf hohem Niveau, würde manch einer sagen. Dennoch: Ein Besuch in der WG von Khery und Schmidt zeigt, dass diese Art des Wohnens nicht nur für Flüchtlinge selbst etwas verändern kann.

Im Bad der beiden Männer hängt ein Schild mit der Aufschrift: „Offen für alles.“ Es liest sich wie eine erste Bilanz nach fünf Monaten Zusammenleben. Der Effekt scheint auch jenseits der Wohnungstüre zu wirken: Die Frau, die Khery anfangs anstarrte wie ein Alien, habe neulich im Hausflur gegrüßt. „Geht doch“, sagt Khery. Er sagt es mit dem Tonfall eines Fußballspielers, der seit langer Zeit endlich mal wieder ein Tor geschossen hat.