Am kommenden Sonntag wird in Gera im zweiten Wahlgang über den neuen Oberbürgermeister abgestimmt. Foto: dpa

Im thüringischen Gera erringt die AfD womöglich den ersten Oberbürgermeistersessel einer Großstadt. Stoppen könnte den AfD ausgerechnet ein Mann aus Baden-Württemberg.

Erfurt - Thüringens Wirtschafts- und Wissenschaftsminister Wolfgang Tiefensee zeigt sich mit Blick auf den zweiten Wahlgang zu den Landrats- und Bürgermeisterwahlen am Sonntag besorgt. „Was mich umtreibt ist, dass in Gera ein AfD-Kandidat in die Stichwahl kam.“

Tiefensee, der auch SPD-Landeschef ist, stammt aus Gera, einer Stadt, die im prosperierenden Thüringen fraglos zu den großen Wendeverlierern zählt. Zu DDR-Zeiten agierte sie als Bezirksstadt noch auf Augenhöhe mit der heutigen Landeshauptstadt Erfurt. Sie war größer und politisch bedeutender als Jena, punktete mit Industrie, Bergbau, Verwaltung und Sport. Doch seit Neugründung der Länder geht es abwärts. Die Industrie brach zusammen und wichtige Filetstücke in Verwaltung, Wirtschaft und Kultur verleibte sich kurzerhand Erfurt ein. Heute prägen große Brachen, blinde Schaufenster und vernagelte Türen Teile der Innenstadt.

Den bisherigen Tiefpunkt bildete 2014 die Insolvenz der Stadtwerke Gera, in deren Folge weitere Kommunalbetriebe – so die Nahverkehrsbetriebe – in den Strudel gerissen wurden: eine Situation, die bislang bundesweit ohne Beispiel ist. Mit einem Landeskredit kaufte die Stadt nun zumindest Busse, Bahnen und Gleise aus der Konkursmasse zurück. Doch nun macht im September auch noch Galeria Kaufhof dicht: wegen „fehlender wirtschaftlicher Perspektive“.

Außerdem im Video: Welche Positionen vertritt die AfD? Wie ist sie entstanden? Das und mehr sehen Sie in unserem 10 Fakten-Video.

Mentalität aus Frust und Widerborstigkeit

All das ließ in Gera schon bald nach 1990 eine Mentalität aus Frust, Trotz und Widerborstigkeit sprießen, an der sich nach und nach alle etablierten Parteien die Zähne ausbissen. Man hält bewusst auf Distanz zu Erfurt und zugleich zu allem, was zu sehr nach Establishment ausschaut. Zunächst zog noch die Linkspartei Nutzen daraus: Sie bildet die deutlich stärkste Rathausfraktion und stellt seit 2004 auch den Stadtratschef. Doch auch ihr Kredit scheint verspielt, wie die Kommunalwahl zeigte. Unter den sechs Oberbürgermeisterkandidaten schaffte es ihre Bewerberin nur noch auf Platz 5. Doch auch die Amtsinhaberin von der CDU kam nicht in die Stichwahl am Sonntag: Diese machen ein unabhängiger Seiteneinsteiger sowie ein Vertreter der AfD unter sich aus.

Der Erfolg der AfD kam nicht unerwartet. Schon zur Bundestagswahl 2017 fuhr diese in Gera ihr thüringenweit bestes Ergebnis ein und schickte gleich zwei Mann nach Berlin. Und nun will mit Dieter Laudenbach (21,3 Prozent/1. Wahlgang) ein Gastronom auch den ersten Oberbürgermeisterstuhl einer deutschen Großstadt für die Rechtspopulisten holen. Und der 60-Jährige ist durchaus populär: Ab 1984 war der Diplomökonom Direktor des größten Geraer Hotels, seit der Einheit führt er ein gut gehendes innerstädtisches Café.

Der AfD-Mann ist in der Stadt gut verwurzelt

Die ganze Laudenbach-Familie ist in Gera gut verwurzelt. Das dürfte auch das größte Handicap für Finalgegner Julian Vonarb sein, auch wenn der mit 23,5 Prozent noch knapp besser abschnitt. Doch der 46-jährige Banker ist ein Zugereister aus dem Breisgau. Für ihn sprechen indes Macherqualitäten als Chef jener GVB Verkehrs- und Betriebsgesellschaft mbH, die ab 2016 wieder Geras Busse und Bahnen verwaltet, sowie seine inzwischen gute Verdrahtung im Kulturbürgertum – so als IHK-Prüfer, als Landeselternsprecher für Grundschulen und als treibende Kraft bei der Revitalisierung von Geras Neuer Mitte.

Das Ergebnis könnte am Ende von der Wahlbeteiligung abhängen sowie von einem speziellen Faktor dieser Wahl: Erstmals dürfen in Thüringen auch 16- und 17-jährige mitstimmen – für viele vorerst die große Unbekannte.