Wenn dem Wähler der Kopf schwirrt. Foto:  

Im Nachgang zum Super-Wahlsonntag stellen sich Fragen. Zum Beispiel die: Sollten die Europawahl und die Kommunalwahlen wieder entzerrt werden? Einige Experten tendieren zu: Ja!

Stuttgart - In der Landeshauptstadt haben sich am Sonntag 57,5 Prozent der Wahlberechtigten an der Gemeinderatswahl beteiligt – ein außergewöhnlich hoher Wert, wie der Leiter des Statistischen Amts der Stadt Stuttgart, Thomas Schwarz, befindet. Vor allem, wenn man in Rechnung stellt, dass sich erfahrungsgemäß nur ein geringer Teil (etwa zehn Prozent) der 72 000 in Stuttgart lebenden EU-Bürger an den Kommunalwahlen beteiligt. Würde sich diese Personengruppe bei der Wahl ähnlich verhalten wie die anderen Stuttgarter, läge die Wahlbeteiligung nach Ansicht von Schwarz um fünf bis sieben Prozent höher, also über 60 Prozent – und damit in Bereichen, wie sie zuletzt 1994 mit dem bisherigen Spitzenwert von 64,3 Prozent bei einer Stuttgarter Kommunalwahl erreicht wurde. Damals waren EU-Bürger noch nicht stimmberechtigt. Diese Betrachtung lässt den Abstand zur Europawahl schrumpfen, an der sich diesmal 67 Prozent der stimmberechtigten Stuttgarter beteiligt haben.

Wahlbeteiligung bei OB-Wahl lag unter 50 Prozent

Die Komplexität der Gemeinderatswahl in Stuttgart mit 913 Kandidaten auf 20 Listen hat die Wähler nach Meinung des Hohenheimer Wahlforschers und Kommunikationswissenschaftlers Frank Brettschneider jedenfalls nicht abgeschreckt. Brettschneider verweist auf eine Befragung von Nichtwählern in der Landeshauptstadt vor vier Jahren, in der laut Statistischem Amt nur rund fünf Prozent der Befragten angegeben hatten, dass sie die Kommunalwahlen zu kompliziert finden. Hauptmotiv für das Nichtwählen ist vielmehr fehlendes Interesse an lokalen Themen. Daran ändert offenbar auch eine einfachere Stimmabgabe nichts. Brettschneider verweist auf die Oberbürgermeisterwahl, bei der die Wähler nur eine Stimme haben. Die Wahlbeteiligung bei der letzten OB-Wahl 2012 in Stuttgart betrug jedoch nur 46,7 Prozent im ersten und 47,2 Prozent im zweiten Wahlgang.

2,2 Prozent der Stimmzettel waren ungültig

Mit dem aufwendigen Kommunalwahlprozedere scheinen die Wähler durchaus zurechtzukommen. Brettschneider liest das aus der niedrigen Zahl ungültiger Stimmzettel ab. Trotz einer Rekordzahl von Listen und Kandidaten waren es nur 2,2 Prozent gegenüber 1,9 Prozent vor fünf Jahren. Ein vertretbarer Wert, findet der Wahlforscher. Gleichwohl schlägt er vor, das Begleitschreiben zu den Wahlunterlagen wählerfreundlicher zu gestalten. „Die Sprache sollte einfacher und weniger amtlich gehalten sein, damit es die Leute leichter verstehen.“

Thomas Schwarz, der Statistikchef der Stadt, verweist auf ein anderes Problem: Er hält den Superwahlsonntag für äußerst schwer zu bewältigen. „Die Bündelung mehrerer Wahlen funktioniert nicht mehr, wenn die Wahlbeteiligung so wie diesmal ansteigt. Dann kommt man in den Wahllokalen an die Grenzen.“ Drei verschiedene Wahlen bedeuteten drei verschiedene Wahlregularien – allein das führe zu vielen Nachfragen vor Ort. Auch wenn die Wähler ihre ausgefüllten Wahlzettel wie vorgesehen mitbringen würden, dauere der Wahlvorgang schlicht länger. „Wir können aber weder das Personal aufstocken noch die Abläufe im Wahllokal beschleunigen.“

Es finden sich kaum noch Wahlhelfer

Hinzu komme, dass die ehrenamtlichen Wahlhelfer an einem solchen Superwahlsonntag einer hohen zeitlichen und mentalen Belastung ausgesetzt seien. „Hier geht’s ja um was; das Ganze muss einspruchsicher sein.“ Man finde deshalb kaum noch Freiwillige. „Wir hatten große Probleme, die notwendigen 2700 Wahlhelfer zusammenzubringen“, berichtet Schwarz. Sein Resümee: „Diese Wahl war ein Kraftakt in jeder Hinsicht.“ Deshalb müsse man sich ernsthaft überlegen, die Wahlen wieder zu entkoppeln.

Michael Wehner von der Landeszentrale für politische Bildung in Freiburg, zeigt dafür Verständnis. „Das Motiv für die Bündelung war ja, dass man gesagt hat, wir legen zwei vermeintlich langweilige Wahlen zusammen, das erhöht die Wahlbeteiligung.“ Jetzt stelle sich Frage: „Werden da nicht verschiedene Ebenen verwischt?“

Frank Brettschneider gewichtet diese inhaltlichen Überlegungen noch stärker: Bei der Abstimmung am Sonntag hätten übergeordnete Themen wie der Klimaschutz stark auf die Kommunalwahl durchgeschlagen, lokale Themen seien in den Hintergrund getreten. „Durch eine Entkoppelung der Wahlen würden auch die Wahlmotive wieder entzerrt.“