In eigener Sache: Die Kommunalwahl 2024 zeigt erhebliche Defizite in der Digitalisierung auf. Unsere Zeitung reagiert mit einer eigenen Datenbank, automatisierter Berichterstattung und zahlreichen Analysen.
Der 9. Juni 2024 war in Baden-Württemberg ein Superwahltag. Bis zu vier Wahlen fanden gleichzeitig statt – EU-Parlament, Kreistag, Gemeinderat und, in der Region Stuttgart, ein neues Regionalparlament wurden gewählt. Für die Wahlleiter in Rathäusern und Landratsämtern ist das eine erhebliche Herausforderung, für die Medien auch.
Unsere Redaktion hat die Wahlen so umfassend wie noch nie begleitet und berichtet, dabei manches Defizit in der Digitalisierung aufgedeckt – und an einigen Stellen Abhilfe geschaffen. Ein Überblick zu unserem Programm, auch als Anregung für künftige Wahlen:
Zu wenig digital: Wahlen werden zumeist zentral organisiert, zum Beispiel von der Landeswahlleitung, und dann vor Ort durchgeführt, von örtlichen Wahlleitern. Das ist nicht nur sinnvoll, sondern schützt auch vor Manipulation. Nur die Gemeinderatswahl organisieren die Kommunen nach eigenem Ermessen und auf selbst gewählter technischer Basis. Das führt unter anderem dazu, dass Ergebnisse der Kommunalwahlen nicht auf einheitliche Art erfasst und veröffentlicht werden.
Zwar haben mehr als 900 Kommunen sich für die vom staatlichen Dienstleister Komm.One bereitgestellte Software Votemanager entschieden, die Wahlergebnisse automatisch im Internet veröffentlicht. Die örtlichen Wahlleiter können jedoch beispielsweise die Ergebnistabellen selbst benennen. Das bedeutet enormen Aufwand, um die Ergebnisse vieler Gemeinden automatisiert in einer einheitlichen Ergebnisdatenbank zusammenzutragen.
Zudem nutzen rund 150 meist kleinere Gemeinden nicht den Votemanager; sie erfassen die Wahlergebnisse mit Excel oder auf Papier und veröffentlichen sie vielfach nur in ihrem Amtsblatt oder per Aushang. Es gibt daher keine vollständige Übersicht, welche Listen in welcher Gemeinde wie viele Stimmen erhalten haben und wer in den Gemeinderat gewählt worden ist.
Verschwundene Wahlergebnisse: 2023 hat der Landtag die Datenschutzvorschriften in der Kommunalwahlordnung verschärft, um Kandidaten vor Anfeindungen zu schützen. Einige Kommunen sowie Amtsblatt-Dienstleister wie der Nussbaum-Verlag übererfüllen diese Vorschriften. In der Konsequenz sind aus rund 130 Gemeinden die Ergebnisse der Kommunalwahl nirgends im Internet abrufbar – nicht einmal die Stimmenanteile einzelner Listen. Damit fehlte vielen Bürgern eine wichtige Grundlage für ihre Wahlentscheidung.
Die Kommunalwahlordnung regelt die Veröffentlichung von Wahlergebnissen in „ortsüblicher“ Weise. Das Internet ist nur als optionaler Kanal genannt. Dauerhaft können Wahlergebnisse für die rund 1100 Kommunen in Baden-Württemberg nur mithilfe einer einheitlichen Datenbank öffentlich gehalten werden.
Eigene Datenbank: Als Grundlage unserer Wahl-Berichterstattung haben wir eine eigene Wahlergebnisdatenbank erstellt. Für fast alle der 1101 Gemeinden haben wir die Wahlergebnisse der Kommunal- und Europawahlen 2019 und 2024 teils automatisiert, teils händisch erfasst. So detailliert wie niemand sonst im Land – sogar detaillierter als das Statistische Landesamt, das bei Kommunalwahlen lokale Wählerverinigungen nur zusammenfassend erhebt. Besonders aufwendig war neben der Datenerfassung, dass die Daten sowohl für die Berichterstattung in Print als auch online vollautomatisch und schnell zu den Leserinnen und Lesern gelangen mussten.
Automatisierte Berichterstattung: Damit unsere User die Wahlergebnisse möglichst komfortabel abrufen können, haben wir sie automatisiert in Form von Tausenden automatisierten Texten und mehr als zehntausend Schaubildern und Tabellen auf fünf Websites ausgespielt – live aktualisiert, in mehreren vom Auszählungsstand abhängigen Varianten und in der Endfassung mitsamt der Namen der neu gewählten Gemeinderäte.
Die Artikel wurden über Suchmaschinen gefunden – oder über unsere eigene Webseiten. Hierfür haben wir eine eigene Suchfunktion entwickelt. User gaben den gewünschten Ort ein und kamen automatisiert zum Ergebnistext.
Ein Beispiel für einen automatisierten Beitrag finden Sie unter diesem Link.
Analysen: Unsere Datenbank hat uns als Grundlage für umfassende und schnell umzusetzende Analysen auf Gemeinde- und Wahllokalebene gedient. Damit konnten wir schneller und detaillierter als früher die Ergebnisse einordnen. Was wir analysiert haben:
Dieser Beitrag beinhaltet eine Karte, die nur unsere Redaktion so detailliert zeichnen konnte: Wer hat in welchem Ort die Gemeinderatswahl gewonnen?
Führt das Kommunalwahlrecht zu einer Zersplitterung der Gemeinderäte? Diesen Vorwurf erhob nach der Wahl der Städtetag und forderte eine Reform. Unsere Analyse zeigt: In größeren Städten trifft die Analyse zu, insgesamt nimmt die Zersplitterung aber eher langsam zu.
Ein größeres Problem scheint das komplizierte Wahlprozedere zu sein. Das zeigt eine Analyse der ungültigen Stimmen. Deren Anteil ist besonders da sehr hoch, wo eine unechte Teilortswahl durchgeführt wird.
Frauenanteil in den Gemeinderäten: Wo ist er besonders hoch, wo besonders gering – und was sagen die gewählten Frauen zu den Gründen vor Ort?
Das Endergebnis der Stuttgarter Gemeinderatswahl hatten wir dank Automatisierung fast eine Stunde vor der offiziellen Verkündung, ebenso die Liste der gewählten Gemeinderatsmitglieder. Die Analyse zeigt, dass Stuttgart politisch zweigeteilt ist – und wo die AfD die Mehrheit geholt hat.
Natürlich haben wir auch die Ergebnisse der Kreistagswahl und der Regionalwahl umfassend dargestellt und den Kolleginnen und Kollegen in den Redaktionen für die Kreise um Stuttgart Daten zum Frauenanteil in den Gemeinderäten und den Stimmenkönigen für eigene Recherchen zugeliefert.
Wie es weitergeht: Wir stellen unseren Datensatz Universitäten für Forschungszwecke zur Verfügung. Eben weil ein solcher Datensatz in dieser Granularität bislang nicht existierte, ist er für die Forschung hoch relevant. Den Austausch mit der akademischen Welt haben wir (für die Europawahl 2024) bereits erfolgreich gesucht.
Für die Berichterstattung zu künftigen Wahlen können wir auf der Vorarbeit von 2024 aufbauen und die Qualität und Granularität bei weiterhin hohem Automatisierungsgrad weiter steigern. Zudem dient uns der Datensatz als Grundlage für die Berichterstattung zur Kommunalwahl 2029. Auch wenn man es nicht hoffen mag – die Daten sind umso wertvoller, wenn die Digitalisierung bis dahin immer noch nicht entscheidend vorangekommen ist.