Jung hilft Alt. Foto: Ute Grabowsky

In Essen-Borbeck lassen Passanten einen Sterbenden unbeachtet liegen, in Stuttgart-Stammheim rettet eine Zwölfjährige einer alten Frau das Leben. Warum reagieren Menschen so – und so?

Stuttgart - Zwei verschiedene Schauplätze, zwei verschiedene Notlagen, verschiedene handelnde und nicht handelnde Personen – und doch sei ein Vergleich erlaubt: Schauplatz eins befindet sich in einer Bankfiliale in Essen-Borbeck. Ein 82-jähriger Mann liegt leblos in der Schalterhalle neben einem Geldautomaten. Es ist Feiertag, die Bank hat geschlossen. Nacheinander betreten vier Personen den Raum, um Geld abzuheben. Der alte Mann am Boden ist nicht zu übersehen, doch keiner kümmert sich um ihn. Alle vier Bankkunden kommen und gehen, ohne Hilfe zu leisten oder Hilfe zu holen. Kurz darauf stirbt der Mann.

Schauplatz zwei ist ein Mehrfamilienhaus in Stuttgart-Stammheim. Eine 96-jährige Hausbewohnerin stürzt und verletzt sich dabei schwer. Sie schreit um Hilfe. Die anderen Hausbewohner sind bei der Arbeit. Niemand hört sie – außer einem zwölfjährigen Mädchen, das gerade von der Schule nach Hause kommt. Das Kind erfasst die Situation, besorgt sich einen Schlüssel, den seine Eltern für Notfälle im Haus deponiert haben, öffnet die Tür zur Wohnung der alten Dame, richtet diese auf, leistet ihr Hilfe und Gesellschaft und verständigt die Polizei. Sie rettet ihr das Leben.

Ignoranz ist kein neues Phänomen

Warum reagieren Menschen so – und so? Nach dem Vorfall in Essen hat dort eine breite Diskussion über vorhandene, vor allem aber um nicht vorhandene Hilfsbereitschaft eingesetzt. Viele beteiligen sich daran – bis hinauf zum Oberbürgermeister und zum Bischof, was ein gutes Zeichen ist, weil auch eine solche Debatte eine Form des Hinschauens darstellt. Vertreter der Polizeigewerkschaften melden sich ebenfalls zu Wort. Einer beklagt einen „kollektiven Empathieverlust in der Gesellschaft“. Der Egoismus, wie er sich im Schalterraum der Bank gezeigt habe, sei Ausdruck des Zeitgeistes.

Daran mag einiges richtig sein, aber eben nur einiges. Denn beim Wegsehen und Weghören handelt es sich nicht etwa um ein neues Phänomen, wie das biblische Gleichnis vom barmherzigen Samariter zeigt. Schon dort gingen Menschen achtlos an einem Verwundeten vorbei, ehe sich jemand seiner erbarmte. Klagelieder über einen voranschreitenden Werteverfall begleiten die Menschheit seitdem wie eine Grundmelodie. Sie erklingen, verstimmen wieder und bewirken nichts. Man muss schon genauer hinschauen – auch bei der Ursachenforschung.

Viele Menschen sind im Ich-Modus unterwegs

Der Berliner Psychologe Peter Walschburger sieht das Phänomen des Ignorierens von Not in der städtischen Anonymität begründet. Menschen seien zwar grundsätzlich sozial und hilfsbereit eingestellt – in erster Linie jedoch gegenüber Personen, die sie kennen. In der Stadt ist das die Ausnahme; Menschen gehen hier eher aneinander vorbei als aufeinander zu. Sie sind im Ich-Modus unterwegs. „Da macht jeder sein Ding“, sagt der Psychologe. Als Ausweg empfiehlt er „eine Verdörflichung der Stadt. Nachbarschaftshilfe statt Großstadt-Anonymität.“

Wie kann das gehen? In Bremen beispielsweise gibt es seit fünf Jahren ein vorbildliches Netzwerk „Tu was – zeig Zivilcourage“, dem sich zahlreiche Institutionen und Gruppen angeschlossen haben, von der Bürgerstiftung bis zum Schaustellerverband. Seiner Arbeit hat die Initiative ein Molière-Zitat vorangestellt: „Wir sind nicht nur verantwortlich für das, was wir tun, sondern auch für das, was wir nicht tun.“ Ihr Ziel ist, eine Kultur des Hinsehens zu fördern. In Fällen von Gewalt, aber auch ganz allgemein.

Es geht um Interesse am anderen

„Tu was“ ist keine Aufforderung, den Helden zu spielen und sich selbst in Gefahr zu bringen. Das wäre falsch und unverantwortlich. Vielmehr geht es um das Interesse am anderen, um Mitmenschlichkeit. Oft genügt es schon, Hilfe zu organisieren und dafür Zeit aufzuwenden.

Das zwölfjährige Mädchen in Stuttgart-Stammheim, Giulia Micolani, hat dies auf eindrucksvolle Weise beherzigt. Sie kannte die Verunglückte, sie erkannte aber auch, dass es in diesem Fall auf sie ankommt. Ihre Eltern haben ihr beigebracht zu helfen, wenn es nötig und möglich ist. Auch in der Schule hat sie gelernt, Verantwortung zu übernehmen. Giulias schönes Beispiel zeigt: Hinsehen kann man lernen – auch in der Stadt.

jan.sellner@stzn.de