Mehrere zehntausend Menschen in Hannover fordern vor dem Besuch von US-Präsident Barack Obama ein Ende der EU-Freihandelsgespräche. Es sind ganz unterschiedliche Gründe, die mehr Teilnehmer als erwartet angelockt haben. Größte Reizfigur ist für sie SPD-Chef Sigmar Gabriel.
Hannover - Die Air Force One setzt um 12.41 Uhr auf der Rollbahn des Flughafens von Hannover-Langenhagen auf. Barack Obama ist zum fünften Mal während seiner Amtszeit in Deutschland eingetroffen. Es wird aller Voraussicht nach seine letzte Visite als US-Präsident sein.
Angesichts des Schneetreibens, das ihn empfängt, hebt er in einer kurzen Geste der Fassungslosigkeit beide Arme, um sich dann vom niedersächsischen Ministerpräsidenten Stephan Weil begrüßen zu lassen und hinter den leicht 20 Zentimeter dicken Panzerglastüren des „Biests“ zu verschwinden, das ihn zum Schloss Herrenhausen fährt, wo Kanzlerin Angela Merkel wartet.
Die schneeverhangenen Wolken trüben ein wenig die Inszenierung der deutsch-amerikanischen Freundschaft, die ihre Beziehungsstürme der Nullerjahre doch hinter sich gelassen haben will. Das Aprilwetter, das auch immer wieder die Sonne hervorkommen lässt, trifft das Auf und Ab zwischen enger Kooperation und NSA-Affäre aber vielleicht doch ganz gut.
Der Proteststurm des Vortags, als nach Polizei- beziehungsweise Veranstalterangaben zwischen 35 000 und 90 000 Menschen in Hannovers Innenstadt gegen das gemeinsame Freihandelsabkommen TTIP demonstrierten, ist ohnehin abgeebbt, als Merkel und Obama am Sonntagabend vor die Presse treten.
Es wird eine launige Veranstaltung, in der Obama seine Gastgeberin über den grünen Klee lobt, „ihre Verlässlichkeit und Standhaftigkeit“, „ihr Denken, das mich über alle Jahre meiner Präsidentschaft begleitet hat“. Er attestiert der Kanzlerin gar, in der Flüchtlingsfrage „auf der richtigen Seite der Geschichte“ zu stehen. Und freut sich, dass sie nach seinem Auszug aus dem Weißen Haus der Weltpolitik erhalten bleibe.
Inhaltlich geht es einmal quer durch den politischen Gemüsegarten – Terror, Syrien, Afghanistan, Libyen und, natürlich, TTIP. Beide werben sie für das Freihandelsabkommen. Merkel meint, Europa müsse sich „sputen“, um angesichts der geplanten Freihandelszone rund um den Pazifik nicht ins Hintertreffen zu geraten. Obama hält aller Probleme zum Trotz einen Verhandlungsabschluss noch dieses Jahr für möglich: „Die Differenzen werden geringer.“
Ernst nehmen müssen Merkel und Obama die Anliegen der Demonstranten dennoch, weil diese, wenn man den Umfragen glauben mag, längst keine Minderheitenmeinung mehr darstellen. Dass die Kanzlerin und der Präsident das auch tun, verdeutlicht die Tagesordnung eines Zusatztreffens mit Frankreichs Staatschef François Hollande, dem britischen Premier David Cameron und Italiens Ministerpräsidenten Matteo Renzi an diesem Montag. Als eine Möglichkeit wird nach Angaben aus der Brüsseler EU-Kommission ein abgespecktes „TTIP light“ diskutiert.
Die Schiedsgerichte bereiten die größten Bauchschmerzen
Die Forderung der Demonstranten sind weitergehender Natur. Auf den Transparenten in Hannover sind verschiedenste Sprüche zu lesen gewesen – von eher derb („Haut weg den Dreck“) über witzig („Make love, not Chlorhühnchen“) und reimend („Lobbys und Konzerne haben TTIP gerne“) bis zu knackig („TTIP stinkt!“).
Christine Konopka aus dem Rheinland hat zum dritten Mal gegen TTIP demonstriert. Sie ist bestens darüber informiert, was über den Verhandlungsstand bekannt ist, und nennt, nach ihrem größten Bauchgrimmen gefragt, die Investitionsschiedsgerichte, vor denen Konzerne die Vertragsstaaten auf Schadenersatz verklagen können. In diesem Punkt bleibt Obama am Sonntag hart. Die von den Demonstranten befürchteten Folgen hält er für „einen Haufen hypothetischer Annahmen“.
Die Mittfünfzigerin Konopka sorgt sich auch um das Vorsorgeprinzip der EU, wonach eben nicht wie in Amerika erst einmal alles erlaubt ist, bis die Schädlichkeit bewiesen ist. „Das alles in Kombination wäre für mich der Untergang des Abendlandes“, hat Christine Konopka am Samstag in Richtung derer gesagt, die Merkels Flüchtlingspolitik dafür halten.
Absage an Antiamerikanismus
Es ist ein bunter Haufen gewesen, der in Hannover zusammenkam, kein brauner. Nachdem sich unter die Berliner Großdemo im Herbst mit 250 000 Teilnehmern auch viele Rechte gemischt hatten, distanzierten sich mehrere Redner in Hannover klar. „Wer mit Ceta und TTIP antiamerikanische Ressentiments schüren und sein nationalistisches Süppchen kochen will, der ist hier falsch“, hat etwa Christoph Bautz vom Hauptorganisator Campact der Menge zugerufen: „Hier demonstrieren die Freunde der Bürger Amerikas.“
Zentrales Thema der Kundgebung ist die Frage gewesen, inwiefern die Parteien beeinflusst werden können, damit eine etwaige Ratifizierung des Vertrages etwa im Bundesrat scheitern möge. Auf der Bühne kann der baden-württembergische Linke Tobias Pflüger zusagen, dass Brandenburg und Thüringen sich enthalten werden: „Wir wollen keine Wirtschafts-Nato.“ Er behauptet, dass dies beim grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann keine ausgemachte Sache sei. Die Grünen-Bundeschefin Simone Peter verweist auf einen Beschluss des Landesverbands und kontert: „Wir Grüne stehen zu unserem Wort, da könnt ihr euch auf uns verlassen.“ Den schwersten Stand hat der Sprecher der SPD-Linken im Bundestag, Matthias Miersch. Er wird ausgebuht, als er eben kein klares Nein zu TTIP verkündet, sondern berichtet, seine Partei würde ihre dazu gesteckten „roten Linien sehr ernst nehmen“ und auf einem Sonderkonvent im Herbst über ihre Haltung entscheiden.
Linke Zweifel an Kretschmanns TTIP-Kurs
Dass sich Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel von der SPD erfolgreich für Änderungen am ersten Entwurf des Schiedsgerichtssystems eingesetzt hat, reicht den Demonstranten nicht. „Ein paar der schlimmsten Auswüchse wurden beschnitten, doch in der Substanz bleibt es bei Sonderklagerechten für Konzerne“, hat Campact-Mann Christoph Bautz beklagt und unter Gejohle gewettert, dass „ausgerechnet ein Sozialdemokrat unsere Demokratie untergräbt“.
Verglichen damit sind die Hauptakteure des Wochenendes, Obama und Merkel, gut weggekommen. Der US-Präsident wurde auf einem Transparent nur sanft an seinen ersten Wahlkampfslogan erinnert: „Yes, we can – stop TTIP.“ Nun strahlt die Sonne, passend zur gewünschten deutsch-amerikanischen Harmonie. „How are you?“, fragt Obama die Gastgeberin, ehe sie den Empfang mit militärischen Ehren absolvieren und vom Balkon einem imaginären Publikum zuwinken. Ob dieses angesichts der zu erwartenden Gesprächsthemen überhaupt zurückgewinkt hätte – neben TTIP geht es um den Anti-Terror-Kampf sowie um mehr deutsche Soldaten für Osteuropa, um die USA zu entlasten –, scheint fraglich.