SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz geht die Länderhoheit in Bildungsfragen frontal an. Er würde gerne das sogenannte Kooperationsverbot aufheben. Foto: dpa

Viele Bürger wollen es nicht einsehen, dass ihr Wohnort mit darüber entscheidet, wie sicher sie sich fühlen dürfen und wie gut ihre Kinder ausgebildet werden. Ein moderner, leistungsfähiger Föderalismus tut Not, meint unser Berliner Korrespondent Christopher Ziedler.

Berlin - Ausländische Beobachter reiben sich verwundert die Augen, wenn sie auf den Bundestagswahlkampf schauen. Deutschland und Europa stehen vor großen Herausforderungen, doch eine echte Debatte, wie ihnen am besten zu begegnen ist, findet kaum statt. Ein zentrales Wahlkampfthema kann bis jetzt niemand benennen. Mit einer Ausnahme vielleicht: Oft geht es auf Marktplätzen oder in TV-Studios um schlecht ausgestattete Schulen und unzureichend ausgerüstete Polizisten. Viele Bürger empfinden es als ungerecht, dass ihr Wohnort mit darüber entscheidet, wie sicher sie sich fühlen dürfen oder wie gut ihre Kinder ausgebildet werden. Die Fehlentwicklungen des Föderalismus haben das Zeug zum Wahlkampfschlager.

Da die Bundespolitiker nicht nur auf die formale Zuständigkeit von Ländern und Kommunen verweisen wollen, entsteht in diesen Wochen Handlungsdruck im föderalen System der Republik: SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz hat gerade seine Vorstellungen für eine nationale Bildungsallianz vorgestellt, CDU-Kanzlerin Angela Merkel stellt Geld für die Hightechausstattung der Schulen sowie die digitale Lehrerfortbildung in Aussicht. Egal, wer letztlich regiert, das Geld wird es nicht zum Nulltarif geben: Der Bund würde vor Ort kontrollieren wollen, was mit „seinen“ Überweisungen geschieht, die Länderhoheit in der Frage ausgehöhlt.

Der Reformdruck nimmt zu

Die Sozialdemokraten gehen mit dem geforderten Ende des sogenannten Kooperationsverbotes den Status quo frontal an. Der Konter der CDU, die sinngemäß sagt, dass alles gut wäre, wenn sie nur überall die Kultusminister stellte, ist zu billig. Sicher, einige SPD-Länder schneiden im Vergleich schwach ab. Das hat aber auch mit äußeren Einflüssen wie der Wirtschaftskraft eines Bundeslandes zu tun. Zudem verlangt das Grundgesetz eben auch, sich um gleichwertige Lebensverhältnisse zu kümmern. Der Wettbewerbsföderalismus, der per Definition auch Verlierer erzeugt, hat es bisher beispielsweise nicht geschafft, wenigstens vergleichbare Schulabschlüsse in Deutschland hervorzubringen.

Der Reformdruck nimmt also zu, ist aber nicht neu. Der Trend zu weniger Föderalismus und mehr Zentralismus zeigte sich schon im Frühsommer, als das Grundgesetz geändert wurde und sich die Länder verschiedene Hoheitsrechte abkaufen ließen: Der Bund kümmert sich nun etwa um ein deutschlandweites Bürgerportal im Internet, kann Steuerverwaltungen vor Ort Anweisungen geben und darf künftig bei Investitionsentscheidungen mitreden.

Bei der Sicherheit ist das Defizit am größten

Der Druck aus der Zentrale beschränkt sich eben nicht auf den Bildungssektor, auch wenn die Unwucht hier für die Bürger am sichtbarsten ist. Selbst im Bereich der Kultur, wo es erst seit 1998 einen Staatsminister auf Bundesebene gibt, gilt die aktuelle Aufgabenteilung als überholt. Mit am größten ist das Leistungsdefizit des Föderalismus bei der Sicherheit. Schon vor Jahren legte die NSU-Mordserie offen, wohin unklare Zuständigkeiten führen. Einen weiteren Beleg für die Reformnotwendigkeit lieferte der Berliner Attentäter Anis Amri. Bund und Länder tauschten zwar im gemeinsamen Terrorabwehrzentrum vor seiner Tat eifrig Informationen aus, aber verhindert haben sie den Anschlag nicht. Danach forderte Innenminister Thomas de Maizière (CDU) Weisungsbefugnisse für die Bundesbehörden – und biss auf Granit.

Der Abwehrreflex ist verständlich. Wer den Ländern die Zuständigkeit für Lehrer und Polizisten entzöge, könnte sie auch gleich ganz abschaffen, was genauso verfassungswidrig wäre. Und doch reicht der Verweis auf das bewährte föderale System allein nicht mehr aus. Es muss auch liefern, es muss sich den Realitäten stellen und sachgerechte Lösungen anbieten. Dass sich viele Bürger einen moderneren, leistungsfähigeren Föderalismus wünschen, zeigen die ersten Wochen dieses Wahlkampfs.