Premiere: Der erste baden-württembergische Flüchtlingsgipfel im Oktober 2014 in Stuttgart Foto: dpa

Die Probleme in der Flüchtlingspolitik müssen klar angesprochen werden, sagt Jan Sellner im StN-Kommentar.

Stuttgart - Wer sich fragt, ob es – wie von der CDU angeregt und von Ministerpräsident Winfried Kretschmann angekündigt – einen weiteren Flüchtlingsgipfel in Baden-Württemberg braucht, der muss sich nur einmal im Land umhören und umsehen: Das Thema Flüchtlinge beherrscht zunehmend die Schlagzeilen – und damit auch das Denken. Es nimmt seinen Ausgang in den Kriegs- und Armutsregionen der Welt, es begegnet uns in Berichten über Flüchtlingstragödien im Mittelmeer. Inzwischen spielt es auch in direkter Nähe, sei es in Degerloch oder in Plieningen – überall dort, wo neue Unterkünfte für Flüchtlinge entstehen. Die Zuschauerperspektive gibt es nicht mehr. Auf die eine oder andere Weise ist jeder betroffen und herausgefordert. Die Gesellschaft als Ganzes muss sich mit den Folgen beschäftigen. Am besten in direktem Austausch – deshalb ein Gipfel.

Vieles gibt es dort zu besprechen. Zunächst die Fakten: In den ersten fünf Monaten des Jahres zählte man in Baden-Württemberg 17 141 Personen, die einen Asylantrag stellten. Im gesamten Jahr 2014 waren es 25 673. Verglichen mit Ungarn, das im ersten Quartal einen Anstieg um 1236 (!) Prozent auf 32 810 Asylanträge verzeichnete und deshalb damit drohte, aus der europäischen Flüchtlingspolitik auszuscheren, ist das wenig. Die Zahlen sind jedoch wiederum so hoch, dass die Landeserstaufnahmeeinrichtungen in Karlsruhe, Mannheim, Meßstetten und Ellwangen überbelegt sind und etliche Kommunen an ihre Grenzen kommen.

Die Teilnehmer des Flüchtlingsgipfels müssen darauf reagieren: Finden sich geeignete Liegenschaften, oder muss man tatsächlich auf „zeltartige Unterkünfte“ ausweichen, vor denen CDU-Spitzenkandidat Guido Wolf warnt? Dazu kommen weitere drängende Fragen: Wie schnell müssen die Kommunen die beschlossene Wohnraumerweiterung von 4,5 auf 7 Quadratmeter pro Asylbewerber umsetzen? Wie lassen sich Verfahren beschleunigen? Und müssen mehr Sozialarbeiter für die Betreuung eingesetzt werden? Das alles kostet Anstrengung – und Geld.

Außer um Fakten und um Geld geht es immer auch um das Menschliche. Hier hat sich Baden-Württemberg positiv hervorgetan. Viele Ehrenamtliche leben die Willkommenkultur vor, von der andere nur reden – und das ganz bewusst auch gegenüber Menschen, bei denen es sich nicht um die ersehnten Fachkräfte handelt, sondern häufig um Hilfsbedürftige, die durch das Erlebte auf Jahre hinaus gezeichnet sind. Umso alarmierender sind Meldungen, wonach sich viele Ehrenamtliche von der Politik im Stich gelassen fühlen. Auch bei der Behandlung traumatisierter Flüchtlinge gibt es Probleme.

Wenn vom Menschlichen die Rede ist, geht es auch um Befürchtungen von Bürgern, die nicht damit klarkommen, dass in ihrer Nachbarschaft plötzlich Behelfsunterkünfte entstehen. CDU-Kandidat Wolf warnt vor „sozialen Spannungen“. So weit ist es noch nicht. Es gibt ein Grummeln, glücklicherweise jedoch keinen offenen Protest – wie im sächsischen Freital, wo sich eine rassistisch-feindselige Stimmung gegenüber Flüchtlingen breitmacht. Die Frage der Akzeptanz gehört jedoch zwingend auf die Gipfelagenda. Es gilt, Ängste aktiv abzubauen, nicht, sie als unbegründet abzutun.

Der erste Gipfel im Oktober war keine „Showveranstaltung“, wie CDU-Landeschef Thomas Strobl mutmaßte. Dennoch hatte er wenig praktischen Nutzen – sieht man davon ab, dass die Landesregierung die Aufnahme von 1000 missbrauchten Frauen und Mädchen aus dem Irak zusagte, von denen bisher 174 im Südwesten eingetroffen sind. Beim zweiten Gipfel im Juli sollte nicht Symbolik im Vordergrund stehen, sondern vielmehr die Sache. Es muss ein Gipfel der Ehrlichkeit sein.

j.sellner@stn.zgs.de