Binnen eines Jahres stieg der Anteil der von Armut bedrohten Menschen von 15 auf 15,5 Prozent im Jahr 2013 an, schreibt der Paritätische Gesamtverband in seinem Jahresgutachten 2015. Foto: dpa

Die Kluft zwischen Arm und Reich in Deutschland wird laut Paritätischem Gesamtverband immer größer. Das sind reißerische Töne, findet Wolfgang Molitor.

Deutschland ist tief gespalten! Drunter tun es die Wohlfahrtsverbände nicht, wenn es um die Kluft zwischen Arm und Reich geht. Es braucht offenbar und immer mehr den reißerischen Aufschrei, wenn auf soziale Missstände aufmerksam gemacht werden soll. Wie die gut gemeinte Übertreibung, dass eine Lawine von Altersarmut auf uns zu rolle, wie Rolf Rosenbrock, der Chef des Paritätischen Gesamtverbandes, alarmistisch prognostiziert. Geht es nicht ein wenig sachlicher? Mit kühlem Verstand statt mit heißem Herzen?

Natürlich weiß man längst auch im Sozial-Marketing, dass gerade die Themen, die moralisch aufgeladen werden, in der Öffentlichkeit gut ankommen. Der Zorn über, der Kampf gegen die Ungerechtigkeit – nicht zuletzt die ungleiche Verteilung von Wohlstand – schmückt sich deshalb mit einem idealistischen Ansatz, das Gute zu wollen und die Deutungshoheit zu beanspruchen.

Niemand bestreitet, dass viele Menschen in Deutschland in finanzieller Not, zumindest in materieller Entbehrung leben. Aus eigenem Verschulden wie aus systemimmanentem Versagen. Dass 2013 die Zahl alter Menschen, die staatliche Unterstützung beansprucht haben, um 30 000 auf eine halbe Million angestiegen ist, kann den Sozialstaat nicht kalt lassen. Dass trotz der sehr erfreulichen Lage auf dem Arbeitsmarkt (2,932 Millionen Arbeitslose im März, das sind 123 000 weniger als im Vergleichsmonat des Vorjahres) die Zahl atypischer und prekärer Beschäftigungsverhältnisse immer größer wird und mittlerweile bei 7,8 Millionen Arbeitnehmern liegt (ein Anstieg in den letzten 20 Jahren um 70 Prozent), ist ebenfalls beunruhigend. Wie die Tatsache, dass Ende 2014 allein in Baden-Württemberg mehr als 70 000 Menschen langzeitarbeitslos waren, Tendenz steigend.

Aber ist das wirklich Armut? Auf historischem Höchststand obendrein, wie die Sozialverbände klagen? Der Berliner Politikwissenschaftler Klaus Schroeder stellt zu Recht unbequeme Fragen. Wird in Berichten wie diesem nicht statt Armut die Verteilung der Einkommen gemessen? Gelten nicht Senioren und Alleinerziehende immer öfter als von Armut gefährdet, obwohl es vielen unterm Strich gar nicht so schlecht geht? Führen die Angaben zum Armutsrisiko und zur Armutsquote nicht auf einen Irrweg, weil in Wohlstandsgesellschaften Armut und Reichtum immer nur relative Größen sind?

Für das Statistische Bundesamt setzt sich die Quote der von Armut gefährdeten Menschen aus dem Anteil jener Personen zusammen, der mit weniger als 60 Prozent – bei Haushalten 70 Prozent – des mittleren Einkommens der gesamten Bevölkerung auskommen muss. In Deutschland gilt als Armutsgrenze für eine alleinstehende Person ein Einkommen von monatlich 979 Euro, das sind 11 749 Euro im Jahr. Für zwei Erwachsene mit zwei Kindern unter 14 Jahren liegt der Schwellenwert bei 2056 Euro im Monat, also 24 673 Euro im Jahr – staatliche Leistungen inklusive. Was Schroeder bis drei zählen und erkennen lässt: Wenn morgen alle das Doppelte hätten, wäre die Quote genauso hoch wie heute.

Worum also geht es den Sozialverbänden? Um ein Ende der Armut? Oder um eigene Interessen? Um eine „gerechte Teilhabe“, also um eine höhere Besteuerung sehr hoher Einkommen, Vermögen und Erbschaften, den Kampf für einen Abbau „der höchsten Vermögensungleichheit innerhalb der Euro-Zone“, wie Rosenbrock von moralisch hoher Warte in die politische Niederung ruft? Es lohnt, auf dem Zungenschlag zu hören. Man erkennt die Absicht – und ist verstimmt.